09.05.2019Interview

Europawahl 2019: Interview mit Özlem A. Demirel und Martin Schirdewan, DIE LINKE

Frau Özlem Alev Demirel (35) und Martin Schirdewan (43) sind gemeinsam die Spitzkandidaten der Partei DIE LINKE bei der Europawahl 2019. Beide konnten bereits in wirtschaftsbezogenen Ausschüssen Erfahrungen sammeln. Frau Demirel, geboren in Malatya in der Türkei, wurde 2016 als Spitzenkandidatin in den nordrhein-westfälischen Landtag gewählt. Martin Schirdewan, geboren in Ost-Berlin, rückte 2017 in das Europäische Parlament nach, da ein Parteikollege Schirdewans in den Bundestag gewählt wurde. Vor dieser Zeit arbeitete er bereits als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Abgeordnetenbüro im Europäischen Parlament. Anlässlich der Europawahl 2019 hat der Deutsche Mittelstands-Bund (DMB) Frau Demirel und Herrn Schirdewan fünf Fragen zu den relevanten Themen des Mittelstandes gestellt. Für ein Interview standen sie gerne zur Verfügung.

Schwerpunkte in der KMU-Europapolitik

Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sind das Fundament der deutschen und europäischen Wirtschaft. Der Umgang mit den Herausforderungen für den Mittelstand wie der Digitalisierung, der Unternehmensbesteuerung und -finanzierung sowie dem demographischen Wandel wird maßgeblich über die künftige Wettbewerbsfähigkeit europäischer KMU mitentscheiden.

Inwiefern hebt sich die KMU-Europapolitik ihrer Partei von der Politik der anderen Parteien ab?

Demirel und Schirdewan: Wir stehen für eine gerechte Besteuerung und klare Rechtsdurchsetzung, um alle Arten von Dumping zu vermeiden. Wir wollen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung beenden und die hohen Vermögen und Einkommen endlich zur Finanzierung öffentlicher Leistungen heranziehen. Nur dann können kleine und mittlere Einkommen effektiv entlastet werden, was unmittelbar auch den KMU zu Gute kommt. Wir wollen öffentliche Investitionen und eine regionale Wirtschaftsförderung, was wiederum im Sinne von KMU ist. Eine bessere wirtschaftliche Perspektive und soziale Zukunft, weniger Unterschiede und mehr regionalen Ausgleich für alle kann es gar nicht anders geben. Die anderen Parteien behaupten zwar immer gern, sie wären für KMU. Deren Politik begünstigt tatsächlich nur große Mittelständler, Unternehmen und Konzerne. Alles andere ist Augenwischerei.

Hilfe bei der Digitalisierung

Das Digitalisierungsniveau von KMU muss europaweit deutlich ausgebaut werden. Kleine Unternehmen haben jedoch Schwierigkeiten damit, die dafür notwendigen finanziellen und organisatorischen Ressourcen aufzubringen. Zudem fehlt es vielerorts an Knowhow.

Wie kann das Digitalisierungsniveau von KMU erhöht werden und welche Förderschwerpunkte wollen Sie in Zukunft setzen?

Demirel und Schirdewan: Digitalisierung braucht Investitionen in Infrastruktur, Rechner, Energie- und Übertragungsnetze. In der Breite durchdacht geplant, damit es kostengünstig für alle Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen wird. Allerdings braucht es nicht per se mehr Digitalisierung. Öffentliches Geld zum Fenster rauswerfen für modische Trends und unsinnigen Geschäftsmodellen ist keine durchdachte Politik. Wir wollen technische Mittel einsetzen, um zentrale Problem in Europa lösen zu können und dabei spielen KMU als regionale Größe eine zentrale Rolle. Wir wollen etwa eine Verkehrs-, Energie- und Agrarwende, den Rohstoffverbrauch drastisch senken und das Müllproblem endlich in den Griff bekommen. Digitalisierung kann dabei helfen, hilft aber eben nicht automatisch.

Unruhige politische Lage in Europa

Die bevorstehende Europawahl wird vom Brexit überschattet. Zudem bedrohen internationale Handelskonflikte die exportstarken europäischen Volkswirtschaften. Ein geeintes und handlungsfähiges Europa scheint wichtiger denn je.

Wie kann die EU in diesen politisch und wirtschaftlich unruhigen Zeiten geeint und gestärkt werden?

Demirel und Schirdewan: Geeint und gestärkt werden kann Europa nur durch klare positive Visionen und Ziele für eine soziale, gerechte und ökologisch nachhaltige Zukunft. Wie wollen wir leben und wirtschaften? Was lässt sich für alle Bürgerinnen und Bürger konkret verbessern? Ein weiter so wie bisher, militärische Stärke und Binnenmarkt allein garniert mit Phrasen über ideelle Werte überzeugen längst nicht mehr. Ein jahrzehntelanger falscher wirtschafts- und sozialpolitischer Kurs hat die Begeisterung für Europa erstickt, wie er jede Aussicht auf eine bessere Zukunft in vielen Mitgliedsländern als Märchen erscheinen lässt. Wer daran grundlegend nichts ändern will, wird zum wahren Totengräber Europas, kann nie geeint werden und auch kein positives Vorbild sein.

Probleme bei der Unternehmensnachfolge

Die Effekte des demographischen Wandels zeichnen sich im Mittelstand deutlich ab: für die kommenden Jahre rechnen wir mit einer deutlichen Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage bei Unternehmensübergaben in Deutschland – dies gilt aber auch in vielen anderen europäischen Staaten.

Wie stehen Sie zu der DMB-Forderung, das Thema der Unternehmensnachfolge als gesamteuropäisches Problem zu begreifen und eine binnenmarktumfassende Lösungsstrategie zu erarbeiten?

Demirel und Schirdewan: Die Unternehmensnachfolge hängt an vielen Faktoren, die Politik nur bedingt beeinflussen kann. Es ist eine individuelle Entscheidung, ein Unternehmen zu übernehmen und weiter zu führen. Wo es sinnvoll ist können Informations-, Förder- und Beratungsprogramme aufgelegt und ausgebaut werden – auch mit europäischem Zuschnitt. Neben fehlenden Geschäftsperspektiven mangelt es oft an motivierten Menschen mit ausreichender Qualifikation für die Selbstständigkeit und Finanzmitteln, um ein Unternehmen erwerben und weiter führen zu können. Daran wird eine Strategie mit Fokus Binnenmarkt nicht automatisch etwas ändern. Zumal die Unternehmensführung in einem anderen Land als im eigenen Herkunftsland ungleich höhere Anforderungen an potentiellen Nachfolger stellt.

Bürokratieabbau - Hemmnisse abbauen

Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen leiden unter bürokratischen Lasten und hohen Informationspflichten. Mit dem Small-Business-Act (SBA) wurde ein wichtiger Grundstein für den Bürokratieabbau gelegt. Dennoch müssen weitere Schritte folgen – viele Unternehmer sehen in der EU weiterhin ein „Bürokratiemonster“.

Was sind aus Ihrer Perspektive sinnvolle Maßnahmen, um den Bürokratieabbau fortzuführen und bessere Rechtsetzung zu gewährleisten?

Demirel und Schirdewan:  Was wir brauchen ist eine effiziente Verwaltung, schnelle und klare Rechtsdurchsetzung und motivierte Menschen. Dafür braucht es Geld und sinnvolle Ziele. Bürokratieabbau als solches ist kein Ziel, denn es ist nicht automatisch positiv. Es ist seit Jahren nur eine billige Ausrede dafür, zu wenig in Köpfe, Abläufe und Verwaltungen zu investieren. Finanzstarke Akteure nutzen dies völlige Versagen der Regierungen schamlos aus. Denn sie können so weitgehend ungestört weiter munter Steuern hinterziehen und Gewinne verlagern, Arbeits- und Umweltschutzstandards unterlaufen oder Produkte und Dienstleistungen auf den Binnenmarkt bringen, die nie hätten zugelassen werden dürfen. Die Zeche dafür zahlen nicht nur die Bürger und Bürgerinnen in Europa, sondern meist auch KMU, die diesen Dumping-Wettbewerb nie gewinnen können.

Das Interview wurde am 06.05.2019 schriftlich mit Frau Demirel und Herrn Schirdewan geführt.

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