09.05.2019Interview

Europawahl 2019: Interview mit Ska Keller, Bündnis 90/Die Grünen

Ska Keller (37) ist seit 2019 Mitglied des europäischen Parlaments. Sie ist seit Dezember 2016 Fraktionsvorsitzende der Grünen/EFA im Europäischen Parlament. Zur Europawahl 2019 tritt sie als Spitzenkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen und der Europäischen Grünen Partei an. Keller wurde in Guben an der deutsch-polnischen Grenze geboren und schloss ihr Studium an der Freien Universität Berlin und der Sabanci Üniversitesi Istanbul 2010 mit einem Magister ab.

Schwerpunkte in der KMU-Europapolitik

Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sind das Fundament der deutschen und europäischen Wirtschaft. Der Umgang mit den Herausforderungen für den Mittelstand wie der Digitalisierung, der Unternehmensbesteuerung und -finanzierung sowie dem demographischen Wandel wird maßgeblich über die künftige Wettbewerbsfähigkeit europäischer KMU mitentscheiden. Inwiefern hebt sich die KMU-Europapolitik ihrer Partei von der Politik der anderen Parteien ab?

Ska Keller: In unserer KMU-Politik, wie in unserer Wirtschaftspolitik insgesamt, betonen wir die Verbindung von ökologischen, digitalen und sozialen Ansätzen zu einer umfassenden Innovationsanstrengung. Gerade für KMUs ist die Perspektive der Förderung von Energie- und Ressourceneffizienz und der Entwicklung einer wirksamen Kreislaufwirtschaft von besonderer Attraktivität. Wir wollen KMUs dabei unterstützen, dass sie bei der digitalen Revolution nicht abgehängt werden. Deswegen ist es uns wichtig, dass sie bei dieser Herausforderung u.a. über die europäischen Innovationhubs gut begleitet werden. Wichtig für KMUs ist es auch, einen verlässlichen Rechtsrahmen für die großen Aufgaben bei der Weiterbildung zu setzen, wobei wir glauben, dass dieser an den bewehrten Prinzipien der dualen Ausbildung anknüpfen könnte. Schließlich ist uns wichtig, dass KMUs nicht einseitig von der Bankenfinanzierung abhängig sind, sondern im Rahmen des Binnenmarktes für Kapital weiter zuverlässige Optionen erschließen können. Auch die Tradition der Sozialpartnerschaft ist uns wichtig, die in vielen KMUs vorbildlich vorgelebt wird.

Hilfe bei der Digitalisierung

Das Digitalisierungsniveau von KMU muss europaweit deutlich ausgebaut werden. Kleine Unternehmen haben jedoch Schwierigkeiten damit, die dafür notwendigen finanziellen und organisatorischen Ressourcen aufzubringen. Zudem fehlt es vielerorts an Know-how. Wie kann das Digitalisierungsniveau von KMU erhöht werden und welche Förderschwerpunkte wollen Sie in Zukunft setzen?

Ska Keller: Wir wollen, dass die EU kleine und mittlere Unternehmen bei der Digitalisierung mit unbürokratischen Beratungsangeboten oder Förderprogrammen unterstützt. Das bedeutet vor allem, die europäische Förderpolitik zu überarbeiten.

Die europäische Förderpolitik hat in den letzten Jahren einen Sprung nach vorne gemacht, ist aber noch nicht am Ziel. Wir haben lange für Programme wie das Mittelstandsprogramm COSME oder den Small Business Act gestritten. Diese Programme sind Schritte in die richtige Richtung, wenn es um administrative Erleichterungen für KMU geht, die sich um Fördermittel bewerben. Das neue Digital Europe Programme sorgt dafür, dass überall in der EU Digital Innovation Hubs eingerichtet werden können, um auch den Mittelstand bei der Umstellung auf die Herausforderungen der digitalen Welt Unterstützung anzubieten. Denn was heute bei der Digitalisierung versäumt wird, kann morgen nur noch schwer aufgeholt werden.

Unruhige politische Lage

Die bevorstehende Europawahl wird vom Brexit überschattet. Zudem bedrohen internationale Handelskonflikte die exportstarken europäischen Volkswirtschaften. Ein geeintes und handlungsfähiges Europa scheint wichtiger denn je. Wie kann die EU in diesen politisch und wirtschaftlich unruhigen Zeiten geeint und gestärkt werden?

Ska Keller: Zentral ist, dass die EU handlungsfähig bleibt und noch handlungsfähiger wird. Dazu braucht es Reformen. Wir wollen eine breite Diskussion über Unionsmodelle wie die Vereinigten Staaten von Europa, den föderativen Bundesstaat oder die Europäische Republik führen und in die Gesellschaft tragen. Als Teil dieser Frage ist auch zu klären, wie die Rolle der Regionen innerhalb der Europäischen Union gestärkt werden kann, also etwa, ob es ausreicht, das Subsidiaritätsprinzip auszuweiten, oder ob in mehr Autonomie und Souveränität der Regionen unter einem europäischen Dach auch Chancen liegen.

Wir wollen für alle verbleibenden Politikbereiche, in denen heute noch per Einstimmigkeitsprinzip entschieden wird, Mehrheitsentscheidungen einführen. Das betrifft hauptsächlich die Gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik sowie die Steuerpolitik. Damit stärken wir Europas Handlungsfähigkeit und verhindern, dass einzelne Mitgliedsländer grundlegende Entscheidungen blockieren können.

Probleme bei der Unternehmensnachfolge

Die Effekte des demographischen Wandels zeichnen sich im Mittelstand deutlich ab: für die kommenden Jahre rechnen wir mit einer deutlichen Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage bei Unternehmensübergaben in Deutschland – dies gilt aber auch in vielen anderen europäischen Staaten. Wie stehen Sie zu der DMB-Forderung, das Thema der Unternehmensnachfolge als gesamteuropäisches Problem zu begreifen und eine binnenmarktumfassende Lösungsstrategie zu erarbeiten?

Ska Keller: Wir sind nicht der Meinung, dass generell Betriebsübernahmen im Rahmen von Unternehmensnachfolge zum Subventionstatbestand gemacht werden sollen. Es kann sinnvoll sein, gegebenenfalls durch öffentliche Mittel einen Innovationsschub im Rahmen einer Unternehmensnachfolge zu unterstützten. Um bloße Mitnahmeeffekte zu verhindern, müssen aber die Kriterien dafür klar geregelt werden. Zudem scheint uns nach dem Subsidiaritätsprinzip nicht das EU-Budget die erste Adresse zu sein. Auch der DMB betont in der Einleitung zu seinen Forderungen richtigerweise den Grundsatz der Subsidiarität, der „für selbstständige Unternehmer, Gewerbetreibende und Freiberufler traditionell eine hohe Bedeutung“ hat. Warum das Thema Unternehmensnachfolge Gegenstand einer gesamteuropäischen Strategie sein sollte, erschließt sich uns nicht.

Bürokratieabbau - Hemmnisse lösen

Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen leiden unter bürokratischen Lasten und hohen Informationspflichten. Mit dem Small-Business-Act (SBA) wurde ein wichtiger Grundstein für den Bürokratieabbau gelegt. Dennoch müssen weitere Schritte folgen – viele Unternehmer sehen in der EU weiterhin ein „Bürokratiemonster“. Was sind aus Ihrer Perspektive sinnvolle Maßnahmen, um den Bürokratieabbau fortzuführen und bessere Rechtsetzung zu gewährleisten?

Ska Keller: Wir wollen weiterhin die europäischen KMU gemäß des Small Business Acts fördern und unterstützen. KMU müssen besseren Zugang zu EU-Forschungsmitteln bekommen. Zudem wollen wir über Regionalpolitik KMU insbesondere im Bereich der Digitalisierung ertüchtigen. Ein wichtiger europäischer Beitrag dafür sind qualitativ hochwertige Kompetenzzentren, sogenannte Digital Innovation Hubs, die auch den Zugang zu entsprechenden EU-Fördermitteln erleichtern. Die von der EU ausgehende Regulierungsintensität ist übrigens in den letzten fünf Jahren deutlich zurückgegangen. Trotzdem muss immer wieder gefragt werden: wo verhindern bürokratische Regulierungen Innovation und wo benachteiligen sie den Mittelstand?.

Das Interview wurde am 26.04.2019 schriftlich mit Frau Keller geführt.

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