Interview mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP
Marie-Agnes Strack-Zimmermann ist Spitzenkandidatin der FDP bei der anstehenden Europawahl 2024. Von 2008 bis 2014 war sie Erste Bürgermeisterin der Stadt Düsseldorf. Zwischen 2013 und 2019 übte sie außerdem das Amt der stellvertretenden Bundesvorsitzenden der FDP aus. Seit 2019 ist sie Mitglied des Deutschen Bundestages und leitet seit Dezember 2021 als Vorsitzende den Verteidigungsausschuss. Der DMB spricht im Interview mit Frau Dr. Strack-Zimmermann über die Zukunft von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in Europa, die Lösung multipler Krisen und die Gestaltung der KMU-Definition.
DMB: Was sind Ihre Hauptforderungen und Maßnahmen zur Unterstützung der europäischen Wirtschaftspolitik, insbesondere im Hinblick auf KMUs? Welche Themen liegen Ihnen besonders am Herzen?
Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Aus meiner Sicht sind Bürokratieabbau und der Zugang zu Fachkräften und Kapital entscheidend. In den vergangenen fünf Jahren ist Europa beim Wachstum deutlich hinter die USA und China zurückgefallen. Anstatt Hürden abzubauen, hat die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen (CDU) die Unternehmen mit immer mehr Regeln und Berichtspflichten ausgebremst. Die Vollendung des europäischen Binnenmarkts – einschließlich der digitalen Wirtschaft, der Energie und der Kapitalmärkte – muss endlich wieder Priorität erhalten. Hier wartet ein riesiger Markt mit 450 Millionen Verbrauchern. In einer Freihandelszone der Demokratien könnten wir noch deutlich größere Märkte erschließen. Deswegen setze ich mich energisch für Verhandlungen mit neuen Partnern in Amerika, Afrika und Asien ein.
Wie wollen Sie den Bürokratieabbau tatsächlich vorantreiben und die Rechtsetzung verbessern, um KMUs effektiv zu unterstützen und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken? Wie wollen Sie sicherstellen, dass die angekündigten Entlastungen tatsächlich umgesetzt werden?
Es fehlt an einer Kontrolle der Bürokratiekosten, die im Zuge der komplexen Gesetzgebungsverfahren oft immer weiter anwachsen. Ich will, dass der den Betroffenen letztlich entstehende Erfüllungsaufwand jeweils in Euro bewertet und transparent gemacht wird. Als Vorbild könnte der deutsche Bürokratieindex dienen. Damit die Lasten nicht immer weiter anwachsen, braucht es einen verbindlichen Mechanismus zum Bürokratieabbau. Mein Vorschlag: Für jede neue Belastung durch EU-Regulierung sollen gemäß einer „One in, two out“-Regel in doppeltem Umfang bestehende Belastungen abgeschafft werden. Zudem muss das aktuelle Beihilferecht überarbeitet werden. Wir wollen auch weiterhin einen starken Wettbewerbsschutz in Europa, aber die zunehmende Überfrachtung, durch andere Themen muss zurückgedreht werden. Mit einem EU-Mittelstandskommissar und einem KMU-Test für Gesetzgebungsverfahren wollen wir faire Wettbewerbsbedingungen für KMU sicherstellen.
Die großen Herausforderungen für die europäische Wirtschaft und insbesondere für Unternehmen des Mittelstands betreffen vor allem die Energiewende, die aktuellen Energiekosten sowie die Digitalisierung.
a. Wie wollen Sie sicherstellen, dass die Energiewende in der EU vorangetrieben wird, ohne die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen zu beeinträchtigen? Welche konkreten Strategien und Initiativen strebt Ihre Partei dazu an?
Eine Energiewende mit fairen Wettbewerbsbedingungen und zu akzeptablen Kosten schaffen wir vor allem, indem wir auf Technologieverbote und zu viel politisches Klein-Klein verzichten. Der erfolgreiche europäische Emissionshandel mit stetig sinkendem Treibhausgaslimit genügt als Leitinstrument, vieles andere ist entbehrlich. Um den Ausbau von Infrastruktur und erneuerbaren Energien zu beschleunigen, sollen Planungsverfahren vereinfacht und Umweltverträglichkeitsprüfungen auf Vorhaben mit grenzüberschreitenden Auswirkungen beschränkt werden. Hier kann die EU über das Gemeinschaftsrecht einen wichtigen Beitrag leisten.
b. Welche Maßnahmen sehen Sie vor, um die digitale Transformation in Europa voranzutreiben und sicherzustellen, dass KMUs wettbewerbsfähig bleiben und gleichermaßen von den Chancen der Digitalisierung profitieren können?
Ich setze mich für den Ausbau des digitalen Binnenmarkts und den Abbau nationaler Schranken ein. Es soll einfacher werden, digitale Geschäftsmodelle zu skalieren und grenzübergreifende Unternehmen aufzubauen. Dazu braucht es eine einheitliche Rechtsauslegung durch eine Europäische Behörde für den digitalen Binnenmarkt. Bürgerinnen und Bürger müssen EU-weit mit einer digitalen Identität unterwegs sein können, die einfach und interoperabel für die Dienste der öffentlichen Hand und der Privatwirtschaft einsetzbar ist. Das Prinzip der Netzneutralität in der Europäischen Union muss weiter gelten.
Der Fachkräftemangel ist ein drängendes Thema von vielen Unternehmen in Deutschland. Welche Strategien bedarf es, um die Rekrutierung von Arbeits- und Fachkräften aus Drittstaaten zu verbessern und die Arbeitsmobilität innerhalb der EU zu fördern?
Ich denke, dass die EU dringend eine Strategie zur Fachkräftegewinnung benötigt. Ziel muss ein weitgehend harmonisiertes Fachkräfteeinwanderungsrecht sein, das auch Drittstaatsangehörigen unkomplizierte Mobilität zum Zwecke der Erwerbstätigkeit ermöglicht. Dazu bedarf es eines Systems wie des europäischen Talentpools nach kanadischem Vorbild, als auch einem Ausbau der Blue Card, damit auch Nichtakademiker und geringere Gehälter berücksichtigt werden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Sprache. Daher fordern wir Freie Demokraten die Einführung von Englisch als zweite Verwaltungssprache in der EU. So sorgen wir dafür, dass ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger im Alltag leichter zurechtkommen. Für eine bessere Arbeitskräftemobilität brauchen wir auch schnellere Verfahren zur Anerkennung von Berufsabschlüssen.
In Ihrem Wahlprogramm zur Europawahl 2024 schlagen Sie eine Anhebung der Mitarbeitergrenze in der KMU-Definition vor. Demnach sollen Unternehmen mit bis zu 1.250 Angestellten ebenfalls unter den Begriff "Mittelstand" fallen. Könnten Sie diesen Ansatz näher erläutern? Besteht nicht die Gefahr, dass durch eine solche Maßnahme die wirklich kleinen und mittleren Unternehmen mit 10, 50, 100 oder auch 250 Angestellten an Bedeutung verlieren?
Wir wollen den Mittelstand als Rückgrat der europäischen Wirtschaft stärken. Dazu sollte die KMU-Definition auf europäischer Ebene an die Lebensrealität angepasst werden. Auch Unternehmen mit mittelgroßer Kapitalisierung („Small-Mid Caps“) und größerer Kapitalisierung („Mid Caps“) sollen zukünftig als europäischer Mittelstand definiert werden und so in ausgewählten EU-Politikbereichen – etwa in der Umwelt-, Klima- oder Außenwirtschaftspolitik – als solche berücksichtigt werden können. Dazu soll unserer Ansicht nach auch die Mitarbeitergrenze erhöht werden. Auch die bisher umfassten Unternehmen verlieren dadurch aber nicht die Vorteile, die ihnen die Zugehörigkeit zu den KMU bringt. Viel zu oft werden Regulierungen nur mit Großunternehmen im Hinterkopf gestaltet und dann die selben Anforderungen an den Mittelstand gestellt. Unser Ziel ist es Europäische Gesetzgebung an die Realität der Vielfalt des deutschen Mittelstands anzupassen.
Europa steht derzeit vor vielfältigen Herausforderungen, die den Zusammenhalt der EU-Staaten auf eine harte Probe stellen – so die Finanz- und Schuldenkrise, die Ukraine-Krise, die Flüchtlingsfrage, der Brexit – und nicht zuletzt der erstarkende Populismus. Wie steht es um die Zukunft Europas? Welche Wege führen langfristig aus der Krise?
Ich bin leidenschaftliche Europäerin. Für Europa begeistert mich, dass es das größte Friedensprojekt seit Menschengedenken ist. Mit ihren grundlegenden Werten Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schützt die EU die Menschen vor Diskriminierung, staatlicher Willkür und Menschenrechtsverletzungen. Der gemeinsame Binnenmarkt bietet beispiellose Wachstums- und Aufstiegschancen für innovative Unternehmen. Europa hat uns Frieden und Wohlstand gebracht. Diesen europäischen Geist müssen wir wiederbeleben. Er darf nicht in Bürokratismus und Klein-Klein ersticken. In diesen Zeiten muss die EU beweisen, dass sie auch Widerständen trotzen kann. Dafür braucht es mehr wirtschaftliche Dynamik, aber auch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die im Idealfall zum Aufbau einer gemeinsamen Europäischen Armee führt.