Interview mit Terry Reintke, Bündnis 90/Die Grünen
Terry Reintke ist Spitzenkandidatin von Bündnis 90/ Die Grünen für die Europawahl 2024. Die gebürtige Gelsenkirchenerin wurde im Alter von 27 Jahren 2014 als damals jüngste Abgeordnete ins Europäische Parlament gewählt. Im Herbst 2022 wählte sie die Grünen-Fraktion des Europäischen Parlaments zur Ko-Vorsitzenden. Im DMB-Interview hat Frau Reintke über die Herausforderungen für KMU, die Zukunft mittelständischer Unternehmen und den Weg aus den anhaltenden Krisen gesprochen.
DMB: Was sind Ihre Hauptforderungen und Maßnahmen zur Unterstützung der europäischen Wirtschaftspolitik, insbesondere im Hinblick auf KMUs? Welche Themen liegen Ihnen besonders am Herzen?
Terry Reintke: Die Innovationsfähigkeit und die Tatkraft der Selbstständigen, der KMU und des Handwerks sind Motor der europäischen Wirtschaft. KMU stellen über 99% der europäischen Unternehmen und stellen zwei von drei Arbeitsplätzen. Sie bieten innovative Lösungen für Herausforderungen wie Klimawandel oder Ressourceneffizienz und sind dadurch unentbehrliche Partner für zukunftsfähige Politik. Wir wollen für KMU die geeigneten Rahmenbedingungen herstellen, damit sie ihre vollen Potentiale entfalten können. Unsere programmatischen Schwerpunkte in der KMU-Europapolitik sind daher die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, die Förderung der Innovationskraft und der Ausbau der Resilienz gegen künftige Herausforderungen.
Wie wollen Sie den Bürokratieabbau tatsächlich vorantreiben und die Rechtsetzung verbessern, um KMUs effektiv zu unterstützen und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken? Wie wollen Sie sicherstellen, dass die angekündigten Entlastungen tatsächlich umgesetzt werden?
KMU werden durch neue bürokratische Anforderungen in besonderem Maße belastet. Wir setzen uns für eine konsequente Prüfung der Auswirkungen neuer Gesetze auf KMU sowie für angemessene Ausnahmen und Übergangsfristen ein. Auch für existierende Gesetzgebung fordern wir eine regelmäßige Überprüfung, um Bürokratie abzubauen und Vorschriften, die ihr Ziel verfehlen, zu streichen. Auch beim Zugang zu EU-Investitionsprogrammen streben wir an, Antragsverfahren zu beschleunigen und Berichtspflichten zu reduzieren. Ein zentrales Mittel für den Bürokratieabbau ist die Digitalisierung der Verwaltung. Dadurch können viele Behördengänge entfallen, der Datenaustausch automatisiert und Anträge leichter gestellt werden. Verfahrensstände sollen online einsehbar werden. Durch eine stärkere Vernetzung von europäischen und nationalen Behörden soll zudem das Once-Only-Prinzip eingeführt werden, damit relevante Daten künftig nur noch einmal bei Unternehmen abgefragt werden.
Die großen Herausforderungen für die europäische Wirtschaft und insbesondere für Unternehmen des Mittelstands betreffen vor allem die Energiewende, die aktuellen Energiekosten sowie die Digitalisierung.
a. Wie wollen Sie sicherstellen, dass die Energiewende in der EU vorangetrieben wird, ohne die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen zu beeinträchtigen? Welche konkreten Strategien und Initiativen strebt Ihre Partei dazu an?
Nur die erneuerbaren Energien garantieren eine unabhängige und auf Dauer günstige Energieversorgung, mit der Europa langfristig wettbewerbsfähig wirtschaften kann. Wir bauen erneuerbare Energien als Teil einer aktiven Wirtschafts- und Industriepolitik EU-weit massiv aus: Bis 2035 sollen sie den wesentlichen Beitrag dazu leisten, die Energieversorgung in der EU auf dem Weg zu 100 Prozent Klimaneutralität sicherzustellen. Außerdem investieren wir in den Hochlauf der Produktion von grünem Wasserstoff sowie den Bau eines europäischen Wasserstoffkernnetzes. Bis genug grüne Energie zu wettbewerbsfähigen Preisen überall in Europa zur Verfügung steht, wollen wir durch Preisstabilisierungsmaßnahmen wie der Förderung von Differenzverträgen sicherstellen, dass auch energieintensive Unternehmen weiterhin in der EU produzieren können und den Übergang zur Klimaneutralität schaffen.
b. Welche Maßnahmen sehen Sie vor, um die digitale Transformation in Europa voranzutreiben und sicherzustellen, dass KMUs wettbewerbsfähig bleiben und gleichermaßen von den Chancen der Digitalisierung profitieren können?
Digitalisierung liefert einen Schlüssel für zentrale Herausforderungen unserer Zeit. Damit sie gelingen kann, braucht es eine digitalisierte Verwaltung sowie eine flächendeckende und leistungsfähige Breitband- und Mobilfunknetze. Um die Digitalisierung der Verwaltung voranzutreiben, haben wir das Onlinezugangsgesetz reformiert, damit Verwaltungsleistungen künftig so weit wie möglich digital erfolgen. Auf europäischer Ebene wollen wir das Once-Only-Prinzip einführen, damit Daten künftig nur noch einmal bei Unternehmen abgefragt werden. Um die für die Digitalisierung benötigte Infrastruktur schneller und grenzüberschreitend auszubauen, wollen wir eine Infrastrukturunion schaffen. Durch diese Infrastrukturunion soll Europa durch starke gemeinsame Infrastrukturen weiter zusammenwachsen - mit einem voll ausgebauten Glasfaser-, Strom-, Schienen- und Wasserstoffnetz. .
Der Fachkräftemangel ist ein drängendes Thema von vielen Unternehmen in Deutschland. Welche Strategien bedarf es, um die Rekrutierung von Arbeits- und Fachkräften aus Drittstaaten zu verbessern und die Arbeitsmobilität innerhalb der EU zu fördern?
Um den Fach- und Arbeitskräftemangel zu lindern, müssen wir mehr in die Ausbildung junger Menschen investieren, Weiterbildungsangebote auch für ältere Menschen bereithalten und Frauen die Möglichkeit geben, sich voll einzubringen. Die Mobilität von Arbeitnehmer*innen innerhalb der EU ist ein Kernelement des Binnenmarkts. Wir wollen sie stärken, indem wir Hürden senken, etwa bei praktischen Fragen rund um die Sozialversicherung. Berufliche Ausbildungsabschlüsse und Bildungsabschlüsse sollen im Rahmen des Europäischen Qualifizierungsrahmens einfacher und schneller in jedem Land der EU gelten, statt mühsam anerkannt werden zu müssen. Durch eine Verdopplung der Mittel für Erasmus+ wollen wir die Mobilität junger Menschen erhöhen und durch Unterstützungsangebote für kleine Betriebe möglichst vielen Auszubildenden die Teilnahme ermöglichen. Bei der Anwerbung aus Drittstaaten sollte die EU-Blue-Card-Initiative auf nicht akademische Berufe ausgeweitet werden, sofern ein konkretes Jobangebot zu marktüblichen Konditionen vorliegt.
In Ihrem Wahlprogramm fokussieren Sie sich im kurzen Abschnitt „Mittelstand und Handwerk fördern“ auf das Thema Bürokratieabbau. Dies ist zweifellos ein zentrales Anliegen, allerdings haben auch andere Parteien diese Zielsetzung. Warum wären die Grünen die beste Wahl für Unternehmerinnen und Unternehmer?
Wir setzen alles daran, dass Europa nicht an der Seitenlinie steht, während China oder die USA massiv in die Entwicklung ihres Standortes und der Zukunftstechnologien investieren. Wir nehmen diesen Wettbewerb an: Für die EU gilt es, eine eigene aktive Wirtschafts- und Industriepolitik zu verfolgen, die auf Europas Stärken aufbauend Zukunftsindustrien zurückholt, entwickelt und skaliert. Sie setzt bei der Forschung an und reicht über die Aus- und Weiterbildung von Fachkräften bis zur Unterstützung bei Investitionen. Dazu gehört einerseits eine Angebotspolitik, die Bürokratie abbaut und Anreize für private Investitionen setzt, andererseits starke öffentliche Förderprogramme für Innovation, Souveränität und Resilienz.
Europa steht derzeit vor vielfältigen Herausforderungen, die den Zusammenhalt der EU-Staaten auf eine harte Probe stellen – so die Finanz- und Schuldenkrise, die Ukraine-Krise, die Flüchtlingsfrage, der Brexit – und nicht zuletzt der erstarkende Populismus. Wie steht es um die Zukunft Europas? Welche Wege führen langfristig aus der Krise?
Die verwobenen Krisen unserer Zeit stellen unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft und Politik vor neue Herausforderungen. Wir müssen deshalb mehr tun, als den bestehenden Wohlstand bloß zu konservieren. Wir müssen jetzt dort vorangehen, wo die Arbeitsplätze und der Wohlstand der nächsten Jahrzehnte entstehen, soziale Sicherheit schaffen und dabei unsere natürlichen Lebensgrundlagen bewahren. Diese Ziele lassen sich nicht im nationalen Alleingang erreichen, sondern erfordern die vereinte Kraft Europas. Dabei sind wir bereit, über unseren Schatten zu springen, wenn es bedeutet, dass wir dadurch gemeinsam vorankommen. Verantwortung, die ernst gemeint ist, bedeutet immer auch Kompromiss. Gemeinsam lassen wir das Versprechen des Wohlstandes für alle Europäer*innen Wirklichkeit werden.