Abschlagsfreie Frührente: Privileg oder Fehlsteuerung?
Die abschlagsfreie Frührente nach 45 Beitragsjahren, oft als „Rente mit 63“ bezeichnet, betrifft nicht nur Arbeitnehmer, sondern hat auch weitreichende Auswirkungen auf den Mittelstand. Unternehmen stehen vor der Herausforderung, Fachkräfte zu finden und diese möglichst lange im Arbeitsmarkt zu halten. Gleichzeitig sind gerechte Rentenregelungen notwendig, um für belastende Berufsgruppen einen Ausgleich zu schaffen und ihnen einen frühen Eintritt in die Rente zu ermöglichen.
Auf den ersten Blick mag also die Frührente nach 45 Beitragsjahren wie eine sozialpolitische Errungenschaft wirken. Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich: Diese Regelung greift nicht dort, wo sie am dringendsten gebraucht würde.
Altersrente für besonders langjährig Versicherte
Im Zuge der steigenden Regelaltersgrenze wurde 2012 eine Rente für besonders langfristig Versicherte eingeführt. Diese sollte Menschen entlasten, die durch ihre belastenden Tätigkeiten nicht bis ins hohe Rentenalter arbeiten können. Dabei handelt es sich vor allem um Menschen, die früh ins Berufsleben eingestiegen sind und beispielsweise eine berufliche Ausbildung abgeschlossen haben.
Die Rente mit 63 galt ursprünglich für alle vor 1953 Geborenen, die nach 45 Beitragsjahren abschlagsfrei in Rente gehen konnten. Seit 2016 jedoch wird das Renteneintrittsalter schrittweise angehoben. Für die Jahrgänge ab 1953 erhöht sich die Altersgrenze pro Geburtsjahr um zwei Monate. Ab dem Geburtsjahrgang 1964 liegt das Eintrittsalter bei 65 Jahren. Es ist daher irreführend, weiterhin von einer „Rente mit 63“ zu sprechen.
Wer bei der Frührente durchs Raster fällt
Während fast ein Drittel der Neurentner dieses Modell nutzt, profitieren vor allem Menschen aus Berufen mit geringerer physischer und psychischer Belastung (DIW Berlin). Laut einem Bericht der DIW Berlin waren fast 70 Prozent der westdeutschen Männer des Jahrgangs 1957 mit den geforderten 45 Versicherungsjahren nicht sehr hoch belastet. Gerade diejenigen, die ihre Gesundheit durch jahrelange körperlich schwere Arbeit eingebüßt haben – wie Bauarbeiter, Pflegekräfte oder Gärtner – scheitern häufig an der 45-Jahre-Hürde.
Die berufliche Belastung variiert stark, wie Daten des DIW Berlin zeigen: Mit zunehmendem Alter nimmt die durchschnittliche Belastung ab. Beschäftigte mit kurzen Erwerbskarrieren verbringen im Durchschnitt 41,3 Prozent ihrer Arbeitsjahre unter hohen Belastungen. Bei Beschäftigten mit bis zu 45 Versicherungsjahren sinkt dieser Anteil auf 29,2 Prozent. Viele von ihnen wechseln in weniger belastende Tätigkeiten, einen anderen Beruf oder scheiden vorzeitig aus dem Erwerbsleben aus, ohne die Regelung nutzen zu können. Besonders betroffen sind diejenigen, die über ein Drittel ihrer Erwerbsjahre unter hohen Belastungen arbeiten und dennoch die 45-Jahre-Hürde nicht erreichen, so das DIW Berlin.
Eine Regelung am Bedarf vorbei
Die aktuelle Regelung ist weder fair noch nachhaltig. Sie setzt ein falsches Signal: Statt jene zu entlasten, die durch hohe berufliche Belastungen wirklich betroffen sind, belohnt sie primär Berufsgruppen, die auch im Alter vergleichsweise länger leistungsfähig bleiben können. Jährlich gehen etwa eine Viertelmillion Menschen den Weg der frühzeitigen Rente, was nahezu einem Anreiz zur Frühverrentung gleichkommt. Angesichts des akuten Fachkräftemangels und der Herausforderungen des demografischen Wandels gefährdet diese Entwicklung die Stabilität des Arbeitsmarktes und die langfristige Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme.
Reformen sind überfällig
Eine zielgerichtetere und gerechtere Lösung ist notwendig. Die Dauer der Erwerbstätigkeit sollte nicht das alleinige Kriterium für einen frühzeitigen Ruhestand sein. Modelle wie die Schwerarbeitspension in Österreich könnten als Vorbild dienen. Diese verbindet eine lange Erwerbsphase mit klar definierten Kriterien für besonders belastende Arbeitsbedingungen, die in einer „Schwerarbeitsverordnung“ festgelegt sind. Allerdings fokussiert sich das österreichische Modell bislang überwiegend auf körperliche Belastungen. In der sich wandelnden Arbeitswelt, die zunehmend auch von psychischen Belastungen geprägt ist, sollten diese ebenfalls als Kriterium berücksichtigt werden.
Gerade für den Mittelstand wäre es entscheidend, dass Reformen stärker auf die Realität kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) eingehen. Frühere Renteneintritte aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen sind unvermeidbar und wichtig, um Arbeitnehmer abzusichern, die ihre Arbeit nicht mehr leisten können. Gleichzeitig bedeuten solche Renteneintritte für KMU den Verlust erfahrener Fachkräfte und verschärfen den ohnehin bestehenden Fachkräftemangel, besonders in handwerklichen, pflegerischen oder logistischen Berufen. Hinzu kommt, dass vielen KMU die finanziellen Mittel und Strukturen fehlen, um Mitarbeitende in weniger belastende Tätigkeiten umzuschulen und so länger im Betrieb zu halten.
Die Einführung eines altersabhängigen Berufsunfähigkeitskriteriums könnte laut DIW Berlin einen entscheidenden Unterschied machen: Es würde Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen frühzeitig absichern und gleichzeitig verhindern, dass leistungsfähige Arbeitnehmer zu früh aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden.
Ergänzend sollten steuerliche Anreize für KMU geschaffen werden, um flexible Arbeitsmodelle wie Teilzeitlösungen oder ein schrittweises Reduzieren der Arbeitsbelastung im Alter umzusetzen. Auch der gezielte Aufbau von Ausbildungsprogrammen, um den Nachwuchs frühzeitig in belastete Berufe einzuführen, ist unerlässlich.
Statt die Rentenversicherung primär als Absicherung der Tätigkeitsdauer zu verstehen, wäre ein Fokus auf die gesundheitliche Leistungsfähigkeit im Beruf und die spezifischen Bedürfnisse des Mittelstands zukunftsweisend.
Fazit
Die abschlagsfreie Frührente in ihrer aktuellen Form ist kein sozialpolitisches Heilmittel, sondern ein Privileg, das an den Bedürfnissen der wirklich Belasteten der Unternehmen vorbeigeht. Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel: weg von pauschalen Lösungen hin zu einem differenzierten Ansatz, der die tatsächliche Arbeitsfähigkeit und Belastung in den Mittelpunkt stellt. Gerade für den Mittelstand und KMU ist es entscheidend, dass Reformen stärker auf die gesundheitliche Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer eingehen, um frühzeitig die Absicherung für Beschäftigte in belastenden Berufen zu ermöglichen. Statt die Tätigkeitsdauer zu honorieren, sollte die Rentenversicherung stärker auf die Absicherung der gesundheitlichen Leistungsfähigkeit ausgerichtet werden. Es braucht zielgerichtete Maßnahmen, die sowohl die Gesundheit der Beschäftigten schützen als auch KMU unterstützen, ihre Fachkräfte langfristig zu halten und den Fachkräftemangel abzufedern.