14.06.2021Interview

"Agilität ist in erster Linie eine Kopfsache"

Produktentwicklung, Kundenkommunikation oder Prozessverbesserung – Agile Methoden können in vielen Unternehmensbereichen und in allen Unternehmensgrößen eingesetzt werden. Scrum und Kanban sind hierbei in den letzten Jahren verstärkt als Schlagwörter für agiles Arbeiten in den Fokus gerückt. Projektmanagement-Experte Carsten Rüscher spricht im Interview mit dem DMB über die wesentlichen Merkmale, die Bedeutung des richtigen Mindsets und worauf KMU beim Einsatz achten sollten.

DMB: Sehr geehrter Herr Rüscher, stellen Sie sich und Ihr Unternehmen doch bitte einmal vor.

Rüscher: Die CR-Projectconsulting habe ich im Jahr 2018 gegründet. Schon früher wurde ich als Projektmanager oftmals in Projekten eingesetzt, die in eine gewisse Schieflage gekommen sind oder einen erhöhten Komplexitätsgrad aufwiesen. Meine Aufgabe war es, diese Projekte wieder fit zu machen oder im Zweifel auch abzuwickeln. Daraus und aus dem Projectconsulting über Projektmanagementmethoden wurde dann die CR-Projectconsulting gegründet und ist trotz Krise sehr erfolgreich gewesen in den ersten Jahren. Auch wenn wir erst seit 2018 am Markt sind, stehen dahinter über 20 Jahre Projektmanagement-Erfahrungen. Die eingesetzten Methoden reichen von klassischen Projektmanagementmethoden bis hin zu vermeintlich moderneren Methoden im Rahmen der agilen Arbeitsweise (Scrum) und der Prozesssteuerung (Kanban). Die breite Methodenkompetenz hilft sehr, da viele Unternehmen heute noch klassisch unterwegs sind, die Anforderungen in dieser Zeit aber nur selten noch mit den eingesetzten Methoden gelöst werden können. Wir helfen also den Unternehmen auch bei der Neuausrichtung des Projektmanagements oder der Produktentwicklung.

Sie bieten unter anderem Scrum, Kanban, Agile Coaching und Consulting an – klingt kompliziert. Erklären Sie doch bitte einmal, was sich hinter diesen Begriffen verbirgt?

Letztlich geht es bei unserem Angebot vor allem darum, die richtige Methode für das jeweilige Unternehmen zu finden und einzusetzen. Wir versuchen unsere Methodenkompetenz ins Unternehmen zu bringen und diese dort zu multiplizieren, damit sie die größtmögliche Wirksamkeit entfaltet. Ein Berater hat dann Erfolg, wenn sein Wissen, was er einbringt, im Unternehmen vervielfacht wird. Diese Wirksamkeit zeigt sich insbesondere dann, wenn Projekte in Schieflage geraten sind. Man muss nun genau überlegen, was die Schieflage verursacht. Diese Ursache abzuleiten und zu beheben ist die Kernaufgabe. Wir sprechen also zunächst nicht sofort über den Einsatz von Scrum oder Kanban. Sondern es muss erst einmal identifiziert werden, was das Beste für das Unternehmen ist.Scrum war und ist – aus meiner Sicht auch durchaus zurecht – in den vergangenen Jahren zu einem Schlagwort für agiles Arbeiten geworden, dazu gehört aber viel mehr als nur die Anforderungen des Scrum Guides zu befolgen. Scrum ist einfach zu verstehen, jedoch schwierig umzusetzen. So wird es auch sinngemäß im Scrum Guide selbst beschrieben. Agilität ist in erster Linie eine Kopfsache. Alle Beteiligten müssen sich auf neue Gedanken einlassen. Oftmals eben weg vom altbekannten „Command-and-control“ hin zum „agilen Leader“. Daran arbeiten mein Team und ich dann mit den Beteiligten im Rahmen des "Agile Coaching". Agilität ist immer eine Reise, vermutlich sogar eine, die nie ein Ende findet. Wenn man sich darauf einlässt, dass Agilität vor allem daran arbeitet, sich selbst, das Team und das Produkt immer besser zu machen – und zwar in kleinen Schritten dieser Reise – dann hat man schon viel zu dem Thema verinnerlicht und der Grundstein für wertschöpfende Arbeit ist gelegt.Bei Kanban nutze ich vor allem die dortigen Praktiken und baue diese nach und nach weiter aus. Es hilft oftmals im Rahmen der Projektrestrukturierung, denn Kanban legt Wert auf gute, passende Prozesse. Sie sehen also, die Methodenkompetenzen sind hier sehr wichtig und dazu bringen wir ein sehr breites Portfolio mit.

Können Sie versuchen, Kanban in drei Sätzen zu erklären?

Wenn wir über Kanban sprechen, dann geht es um das Kanban im Wissensmanagement und nicht um das Kanban aus der Produktion, wie es beispielsweise von Toyota bekannt ist – letztlich haben sie aber die gleiche Basis. Es geht also um die Wissensarbeit und nicht um Produktions- oder Fertigungssteuerung von Gütern. Kanban ist eine Methode zur Steuerung der Prozesse und berücksichtigt hier vor allem die Kundennachfrage. Dabei nutzt Kanban durch festgelegte Prinzipien und Praktiken die daraus resultierende Kraft zur stetigen Optimierung des Systems und der Zusammenarbeit der im System Arbeitenden.

Lassen sich Methoden wie Kanban oder Scrum auch in KMU einsetzen? Wie verbreitet sind agile Methode?

Sowohl Kanban als auch Scrum findet man in Unternehmen aller Größenordnung. Von Kleinstunternehmen, über den Mittelständler bis hin zu großen Automobilkonzernen und weltweit agierenden Banken. Überall dort findet man Ansätze von Scrum. Häufig sind es eben leider nur Ansätze, da das Mindset und das Verständnis fehlt. Daraus resultiert dann häufig auch die Ansicht, dass Agilität nicht funktioniert. Aber es kann natürlich auch nicht funktionieren, wenn man das Mindset nicht vorher aufgebaut hat. Kanban ist meines Erachtens noch deutlich weniger verbreitet, setzt sich aber mittlerweile stärker durch. Der große Vorteil von Kanban ist, dass es deutlich niedrigschwelliger startet. Bei Scrum habe ich den Scrum Guide, der viel mehr Dinge voraussetzt. Er gibt ein deutlich stärkeres Rahmenwerk vor. Das ist bei Kanban anders. Daher ist Kanban für KMU, bei denen die Verantwortlichen feststellen, dass die Teams nicht so richtig laufen und die Performance nicht mehr stimmt, der deutlich bessere Ansatz. Denn Kanban startet niedrigschwelliger, indem es die aktuelle Situation vollständig aufnimmt und sich die Verbesserung im System evolutionär daraus entwickelt. Kanban beginnt damit den Prozess zu managen und nicht den Menschen. Ein klassisches Beispiel ist die Visualisierung von Arbeit. Sehr bekannt ist in diesem Zusammenhang das sogenannte Kanban-Board mit den drei Spalten „To Do – Doing – Done“, wobei das auch nicht „das“ Kanban-Board ist, sondern nur eines, was sich unter dem Namen irgendwie durchgesetzt hat. Kanban-Boards berücksichtigen jeweils die individuellen Prozesse und deren Regeln. Verinnerlicht man sich dieses, hilft es schon ungemein. Das ist aber auch gleichzeitig ein Hemmnis, da wir oftmals feststellen, dass Mitarbeitende gar nicht wollen, dass ihre Arbeit visualisiert wird. Man kann sich dann plötzlich nicht mehr verstecken. Das gilt übrigens auch für Chefs und begegnet einem auf allen Hierarchieebenen. Die Visualisierung ist aber ein sehr guter Startpunkt. In den 80er Jahren wurde vielfach noch die Meinung vertreten, dass ein Schreibtisch wahnsinnig voll sein muss, damit man produktiv ist und seine Produktivität damit zeigt. Man muss also sehr viele Dinge gleichzeitig machen. Heute weiß man aber – auch aus wissenschaftlicher Sicht – dass das unsinnig ist und nicht funktioniert. Bei Kanban legt man daher so genannte WIP (work in progress) Limits fest. Man darf sich nur um eine bestimmte Anzahl an Dingen kümmern, weil die Dinge fertig werden sollen. Frei nach dem Motto: Stop starting, start finishing. Kanban kann man wunderbar auch noch mit agilen Werten wie Transparenz und vernünftige Kommunikation ergänzen. Das gilt übrigens auch für die Kommunikation mit Kunden. Viele junge Unternehmen sind heute so stark, weil sie eben deutlich näher am Kunden sind. Wenn man diese Dinge verinnerlicht, kommt man gut weiter. Die agilen Werte kann man übrigens auch sehr gut im Privaten anwenden. Das muss auch gar nicht zu sehr auf Arbeit bezogen werden, sondern eher als Lebenseinstellung verstanden werden. Dadurch kann es gut sein, dass die Arbeit auch wieder mehr Spaß macht und das resultiert natürlich wieder in einer höheren Wertschöpfung.

Welche Vorteile ergeben sich durch den Einsatz von agilem Projektmanagement in KMU? Wie identifiziert man beispielweise Einsatzbereiche?

Die Einsatzbereiche sind vielfältig. Ich habe es vorhin schonmal anklingen lassen, dass wir hier vor allem von der sogenannten Wissensarbeit sprechen, also all das, was nicht der Produktion von Gütern entspricht. Scrum und Kanban kommen ursprünglich aus dem Bereich der Softwareentwicklung, man findet beide Methoden aber mittlerweile in sehr vielen Unternehmensbereichen wieder. Während Scrum tatsächlich sehr gut in der Produktentwicklung eingesetzt werden kann, lässt sich Kanban aus meiner Sicht deutlich breiter einsetzen. Kanban ist heute – wenn es richtig eingeführt UND vor allem auch nachhaltig gelebt wird – in nahezu jedem Unternehmensbereich denkbar. Um Einsatzbereiche zu identifizieren, gilt gerade für Kanban nach den Zielen zu fragen. Möchte ich beispielsweise Transparenz der Arbeit und eine Vorhersehbarkeit der Fertigstellung erreichen? Möchte ich als Unternehmen bessere Produkte anbieten können, die die Kundenausrichtung berücksichtigt und dabei genauso die "inneren Werte" verbessern? Gerade als KMU bin ich ja oftmals auch in der Position als Arbeitgeber, dass ich attraktive Arbeitsplätze anbieten muss. Die Arbeit mit Scrum und Kanban gelten heute ja als moderne Art der Arbeit und verkörpern auch eine gewisse Haltung des Unternehmens, das sind dann schon auch Vorteile bei der möglichen Ausschreibung und Besetzung von Stellen. Aus der Praxis heraus erlebe ich Kanban neben dem IT-Sektor in den Bereichen Personal/HR, Assistenz und auch in den Bereichen Marketing, Qualitätssicherung und letztlich auch in der Unternehmenssteuerung.

Welche ersten Schritte sind für KMU sinnvoll, die erstmalig Methoden wie Scrum oder Kanban ausprobieren möchten?

Die Einführung von Scrum und Kanban scheitern immer wieder, weil man die Notwendigkeit der Einführung falsch eingeschätzt hat. Ein System einzuführen, weil es aktuell en vogue ist, hat noch nie geholfen. Wichtig ist – egal ob Scrum oder Kanban – zu wissen, was man erreichen möchte. Die Verbesserung der Produktqualität, vorhersagbarere Lieferzeiträume, klarere Unternehmensstrukturen und Prozesse im Unternehmen? Hierbei helfe ich meinen Kunden natürlich sehr gerne. Es gilt also oftmals herauszufinden, was man erreichen bzw. ändern möchte. Und wenn man sich dann auf diese evolutionäre Entwicklung einlässt, gepaart mit der Methodenkompetenz von Profis, dann hat man einen guten Start für den Transformationsprozess. Aber es reicht nicht, irgendwelche Mitarbeiter*innen zu einem Scrum- oder Kanban-Kurs zu schicken und dann getreu "mach mal" zu beginnen. Hier bedarf es einer größeren Denkweise, die vor allem bei den Führungskräften angesiedelt ist. Mein Tipp dazu also: Holen Sie sich Profis als Unterstützung ins Haus, dann wird es auch nachhaltig positive Änderungen geben. Ich bin in der D-A-CH-Region sehr gut vernetzt und höre immer wieder von sehr erfreulichen Transitionen in Richtung agiler Arbeit und unterstütze dort auch gern.

In Ihrem „Kanban Coaching Podcast“ gehen Sie seit Kurzem auf Entdeckungsreise durch das Kanban Universum. Was ist das Ziel, das Sie mit dem Podcast verfolgen und an wen richtet sich der Podcast?

Der Podcast ist tatsächlich noch sehr jung, aber gemeinsam mit meiner Podcast-Kollegin Ina Galinsky, die in einem anderen Unternehmen als Kanban-Consultant tätig ist, wollen wir das Thema Kanban sehr niederschwellig dem geneigten Zuhörer näherbringen.

Als ich vor ein paar Monaten die Idee dazu hatte, war sehr schnell klar, dass ein Podcast als Wissensvermittler mit nur einer Person wenig erfolgversprechend sein wird. Das Format ist für zwei Personen deutlich besser geeignet, zumal ich auch lieber im Team arbeite und wir so Inhalte besser und auch mindestens aus zwei Blicken betrachten können. Also habe ich mir damals eine Verstärkung gesucht und glücklicherweise mit Ina sehr kompetent gefunden.

Der Podcast hat jetzt die ersten Folgen online und wir sind mit den Zahlen schon sehr zufrieden. Dabei entwickeln wir die weiteren Folgen auch sehr individuell, es gibt nicht den großen Masterplan im Sinn eines Projektplans und schon gar keine fertige Roadmap durch das Universum, was wir wann bringen, wir wollen eher einen gewissen Flow erzeugen, nehmen das Feedback und die Themenwünsche der Zuhörerschaft sehr ernst und entwickeln daraus die weiteren Folgen. Aktuell beschäftigen wir uns noch mit den Basics und wollen uns später weiter den Spezialthemen widmen. Insgesamt wollen wir helfen, Kanban präsenter zu machen und ich bin da sehr optimistisch, dass uns das auch gelingt.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

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