11.08.2021Interview

"Die größte Herausforderung ist der Fachkräftemangel!"

Der Fachkräftemangel stellt die Physiotherapie-Branche vor eine große Herausforderung. Die Arbeit besser zu bezahlen und eine moderner gestaltete Ausbildung könnten helfen, wieder mehr junge Menschen für den Physiotherapeuten-Beruf zu gewinnen. Was die Branche sonst noch fit für die Zukunft machen könnte, erklärt DMB-Mitglied Sylke Liesegang-Gocht.

DMB: Frau Liesegang-Gocht, bitte stellen Sie sich und Ihr Unternehmen kurz vor.

Sylke Liesegang-Gocht: Ich bin seit fast 30 Jahren Physiotherapeutin und habe im Laufe dieser Zeit weitere Zusatzqualifikationen zur Manualtherapeutin und sektoralen Heilpraktikerin erworben. Ich besitze momentan in Berlin sechs Physiotherapiepraxen, zwei Ergotherapiepraxen sowie zwei Praxen für Kosmetik und Fußpflege. Außerdem habe ich eine Firma für Gesundheitsmanagement. Insgesamt beschäftige ich rund 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Da mein Unternehmen immer weiter gewachsen ist, habe ich zwischenzeitlich auch drei Jahre berufsbegleitend studiert und so einen Abschluss zum Bachelor of Business Administration erworben. In einer Praxis habe ich ein größeres Büro, wo auch meine Sekretärin sitzt. Ansonsten habe ich in allen Praxen eine fachliche Leitung, die für den physiotherapeutischen Bereich verantwortlich ist, sowie eine Sekretärin, die sich um administrative und organisatorische Angelegenheiten kümmert. Ich bemühe mich, in jeder Praxis mindestens einmal in der Woche anwesend zu sein, sodass wir alle wichtigen Angelegenheiten besprechen können. Ja, und daneben behandle ich auch noch Patienten.

Vor welchen Herausforderungen steht die Branche der Therapieberufe derzeit?

Die größte Herausforderung ist auf jeden Fall der Fachkräftemangel. Für uns steht aber auch das Thema Digitalisierung an, denn wir wollen auch in die Telematik-Infrastruktur einsteigen. Als Physiotherapiepraxen wollen wir in das Netzwerk Gesundheitswesen, wodurch der Austausch und die Kommunikation vereinfacht wird und das es uns ermöglicht, Rezepte, Befunde und Dokumente digital zu verschicken und Befunde auch erstellen zu können. Und da sind wir gerade dabei, unsere Praxen alle umzustellen. Wir haben schon viel digitalisiert, aber bei weitem noch nicht alles. Das ist auch eine große Herausforderung, da damit natürlich auch immense Kosten verbunden sind.

Kommen wir auf den Fachkräftemangel zu sprechen. Welche Auswirkungen hat der Fachkräftemangel konkret auf Ihre tägliche Arbeit?

Ganz konkret macht es sich so bemerkbar, dass wir nicht alle Patienten behandeln können, die von uns behandelt werden wollen. Wir müssen Patienten wegschicken. Es gibt auch Patienten, die fast weinend vor unserer Tür stehen, weil sie jemanden suchen, der sie behandelt. Auch akute Patienten können teilweise nicht untergebracht werden. Besonders dramatisch ist es in der Ergotherapie, wo auch Kinder behandelt werden. Dort haben wir tatsächlich Kinder, die eigentlich behandelt werden müssten, damit sie eingeschult werden! können. Diese Kinder können dann aber nicht eingeschult werden, weil sie keine therapeutische Begleitung bekommen. Nicht die entsprechenden Fachkräfte zu bekommen, ist für uns schon ein sehr weitreichendes Problem, unter dem auch die Patientenversorgung leidet.

Da es flächendeckend physiotherapeutische Praxen gibt, ist es eigentlich so, dass man auch wohnortnah zur Therapie gehen kann, wenn man jetzt nicht ausdrücklich zu einem besonderen Spezialisten gehen möchte. Das ist mittlerweile aber gar nicht mehr gegeben. Es gibt viele Patienten, die weite Wege auf sich nehmen, um behandelt werden zu können. Wir haben ein besonders großes Problem im Bereich der Hausbesuche, da viele Praxen gar keine Hausbesuche mehr machen können. Stellen Sie sich einen akuten Patienten vor, der einen Schlaganfall hatte. Dieser Patient war in einer Klinik und bei einer Reha. Gerade bei einem Schlaganfall muss die Therapie so schnell wie möglich beginnen oder fortgesetzt werden. Nun wird dieser Patient entlassen und im Zweifelsfall gibt es so schnell wie er das benötigt gar keine Termine, um ihn weiter zu behandeln. Das wirkt sich deutlich auf die Heilungschancen und die Lebensqualität des Patienten aus. Man sagt ja gerade bei einem Schlaganfall auch, es ist wichtig, dass so schnell wie möglich mit der Therapie begonnen wird. Nicht einmal bei einem Schlaganfall können wir Physiotherapeuten mit der Therapie schnell beginnen, weil die Praxen einfach so lange Wartezeiten haben und nicht über das notwendige Personal verfügen.

Welche Ursachen hat es, dass junge Menschen sich seltener für einen Therapieberuf entscheiden?

Der Beruf dürfte in den letzten Jahren leider unattraktiver geworden sein. Das liegt vor allen Dingen an der schlechten Bezahlung. Dadurch ist es schwierig, überhaupt einen Einstieg in den Beruf zu finden. Denn im Bereich der Physiotherapie sind wir leider schulgeldpflichtig. Es gibt eine schulische Ausbildung, die dann also auch noch finanziert werden muss. Wenn man nicht mehr bei seinen Eltern wohnt und vielleicht sogar schon eine Familie hat, ist es nahezu unmöglich, diese Ausbildung zu machen. Im Grunde genommen können nur junge Leute noch in diese Ausbildung reingehen, die die entsprechenden finanziellen Möglichkeiten haben, manchmal auch durch BaföG. Alle anderen haben gar keine Zugangsmöglichkeiten, weil ihnen die finanziellen Mittel fehlen. Wenn die Auszubildenden dann ihre Ausbildung abgeschlossen und drei Jahre dafür gezahlt haben, kommen Sie zu ihrem ersten Arbeitgeber. Dort wird dann gleich nach weiteren absolvierten Fortbildungen gefragt. Mit der Ausbildung hat man gar keine richtige Basis, sondern es geht sofort weiter. Man hat zwar drei Jahre gelernt, aber im Grunde genommen muss man als Auszubildender noch mehr wissen, um einen guten Start ins Berufsleben zu haben.

Über die Gehaltsstruktur im Bereich der Physiotherapie haben wir da noch gar nicht gesprochen. Man muss einfach sagen, das sind wir so weit unten angesiedelt, dass man als angestellter Physiotherapeut davon keine Familie ernähren und sich in einer Stadt wie Berlin auch kaum eine eigene Wohnung leisten kann. Bei Berufsstartern beträgt der Stundenlohn 14 oder 15 Euro.

Das ist schade, denn der Beruf des Physiotherapeuten ist ein toller Beruf. Wenn sich Praktikanten, auch Schulpraktikanten, in einer unserer Praxen den Beruf anschauen, erleben sie, dass der Beruf des Therapeuten sehr abwechslungsreich ist. Man hat viele Erfolgserlebnisse, kann sich im Beruf auf unterschiedliche Weise weiterentwickeln und spezialisieren, und man hat die Möglichkeit, sich selbstständig zu machen oder eine Leitung zu übernehmen. Aber leider ist der Weg dorthin sehr steinig und mit immensen Kosten verbunden und deswegen nicht jedem zugänglich.

Was müsste sich neben der Bezahlung auch an der Ausbildung ändern, um für Fachkräfte attraktiver zu werden? Wie müsste eine moderne Ausbildung im Bereich der Therapieberufe gestaltet sein und ist eine Akademisierung sinnvoll?

Die Ausbildung ist auch inhaltlich ziemlich veraltet, weswegen wir jetzt eine große Veränderung anstreben. Auch von Seiten des Gesetzgebers her ist es nun angebracht, dass sich etwas verändert. Die Ausbildung muss inhaltlich an unser heutiges Gesundheitssystem angepasst werden. Ich merke, dass viele Schulen bereits in Richtung Zukunft blicken und ihre Schüler ganz anders betreuen, andere Ausbildungsinhalte haben. Aber im Grunde genommen muss das auch noch gesetzlich verankert werden.

Akademisierung ist in unserem Bereich gerade ein großes Thema. Es gibt die Möglichkeit, Studiengänge für Physiotherapie als komplette Ausbildung oder ausbildungsbegleitend zu belegen. Das bringt uns allerdings bei der Arbeit am Patienten nicht unmittelbar weiter. Da müssen wir aber hinkommen, dass das Studium Fachphysiotherapeuten hervorbringt, die in der Therapie besonders spezialisiert sind. Unser Problem der letzten Jahre war, dass viele akademisierte Physiotherapeuten den Beruf verlassen haben, weil sie nicht mehr „nur“ Patienten behandeln wollten, sondern einen anderen Weg eingeschlagen haben. Das ist schade, denn eigentlich sollte die Akademisierung die Therapeuten so weiterbilden und qualifizieren, dass sie in der Behandlung der Patienten noch besser werden. Es müsste so sein wie bei einem Facharzt, der auf die ärztliche Ausbildung aufgesetzt wird. Das ist bei uns mit der Akademisierung momentan noch nicht so, aber der Weg dorthin ist auf jeden Fall schonmal beschritten.

Sind Sie bereits aktiv geworden, um selbst etwas gegen den Fachkräftemangel für Ihr Unternehmen zu tun?

Wir unternehmen bereits viel, um motivierte Fachkräfte zu gewinnen. Seit ein paar Jahren bilden wir selbst Physiotherapeuten aus und sind eine Kooperation mit einer Physiotherapeutenschule eingegangen. Wir haben die Hoffnung, dass mehr junge Menschen eine solche Ausbildung beginnen, wenn wir auch die Kosten dafür übernehmen. Daher bezahlen wir bereits das Ausbildungsgeld für einige Schülerinnen und Schüler, die sich ihre Ausbildung sonst nicht hätten leisten können. Auch fachspezifische Fortbildungen unserer Beschäftigten finanzieren wir und stellen sie für diese Zeit frei.

Um ein attraktiver Arbeitgeber zu sein, bieten wir aber auch eine betriebliche Altersvorsorge und ein Kilometergeld. Unterschiedliche Arbeitszeitmodelle kommen den individuellen Lebenssituationen unserer Beschäftigten entgegen, zum Beispiel wenn sie sich um ihre Kinder kümmern müssen. Dazu gehört ebenfalls, dass sie auf ihren Wunsch auch an mehreren unserer Standorte eingesetzt werden können und nicht nur in einer Praxis arbeiten müssen. Eine gute Arbeitsatmosphäre fördern wir, indem wir auch zum Thema Kommunikation Bildungsangebote machen.

Auf diese vielen Aktivitäten machen wir über unsere Öffentlichkeitsarbeit und unser Marketing aufmerksam, um zu zeigen, dass wir ein attraktiver Arbeitgeber sind.

Welche Ansätze sehen Sie denn bei der Digitalisierung, um dem Fachkräftemangel zu begegnen?

Da müsste man im Bereich der Physiotherapie viel mehr machen und da würde ich auch selbst sehr gerne noch mehr machen. Ein Patient, der jetzt dreimal die Woche zu uns in die Praxis kommt, der müsste dann vielleicht nur noch einmal die Woche zu uns kommen und wird über eine App angeleitet, bestimmte Dinge Zuhause zu tun. Schließlich gibt es bereits Behandlungsinhalte, die nicht unbedingt nur in der Praxis stattfinden müssen und die die Patienten auch Zuhause durchführen können. Dann müssen sie dabei nur noch überprüft oder ein bisschen begleitet werden. Ich glaube, dass die Digitalisierung uns auch in dieser Hinsicht helfen kann.

Weswegen werden diese Möglichkeiten noch nicht genutzt?

Ich habe dein Eindruck, dass unser Fachbereich so unattraktiv für die Anbieter solcher Lösungen ist und sie damit nur wenig Geld verdienen können, dass in dem Bereich überhaupt nicht geforscht und auch nicht richtig etwas vorangetrieben wird. Im Diabetes-Bereich gibt es das alles schon, aber es gibt viele Diabetiker in Deutschland und da können Pharmafirmen viel Geld verdienen. Aber in der Physiotherapie arbeiten wir noch mit unseren Händen und vertreiben keine Medikamente. Da ist die Frage, wo das herkommen und wer das finanzieren soll.

Im September ist Bundestagswahl. Was erwarten Sie hinsichtlich Fachkräftemangel und Digitalisierung von der künftigen Bundesregierung?

Ich wünsche mir Schulgeldfreiheit, damit mehr junge Menschen die Ausbildung oder das Studium absolvieren, und eine höhere Wertschätzung des Berufes durch eine angemessene Bezahlung. Für die weitere Zukunft des Berufes ist es unabdingbar, dass wir unsere Patienten unabhängig von ärztlichen Verordnungen behandeln können. Außerdem brauchen wir die digitale Anbindung der Physiotherapiepraxen an das Netzwerk im Gesundheitssystem als gleichwertiger Partner.

Für unser Gesundheitssystem würde ich mir wünschen, dass wir von der ausschließlichen Behandlung der Symptome wegkommen und sich alle Fachrichtungen wieder mehr Gedanken zu den Ursachen von Krankheiten und Krankheitsverläufen machen. Die Gesellschaft muss wieder lernen, mehr Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen.

 

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Liesegang-Gocht!

 

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