"Für viele Mittelständler könnte 2023 zum Schicksalsjahr werden."
Der DMB hat die mittelstandspolitischen Sprecher der Bundestagsfraktionen um eine Beurteilung der Mittelstandspolitik nach dem ersten Jahr der Ampelkoalition gebeten. Christian Leye, wirtschaftspolitischer Sprecher für Die Linke, sieht dringenden Handlungsbedarf in der Mittelstandspolitik und spricht sich für eine aktive, sozial ausgerichtete Industriepolitik des Staates aus.
DMB: Wie beurteilen Sie die Mittelstandspolitik der Ampel nach dem ersten Regierungsjahr?
Christian Leye: Nach einem Jahr Ampel steht der Mittelstand nicht besser da als vorher. Im Gegenteil: Kleinen und energieintensiven Unternehmen reicht das Wasser bis zum Hals. Wegen hoher Energiekosten sind die Unternehmensinvestitionen stark rückläufig. Die Wohlstandsbasis der kommenden Jahre bröckelt. Unterdessen drohen die Entlastungen der Gaspreisbremse an vielen Mittelständlern vorbeizugehen. Förderprogramme wie das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand sind auch in diesem Jahr zu sehr auf Kante genäht.
Was werden aus Ihrer Perspektive die drei zentralen mittelstandspolitischen Themen in der laufenden Wahlperiode sein?
Zum einen wird die Entwicklung der Energiekosten darüber entscheiden, welche Unternehmen eine Zukunft in Deutschland haben und welche nicht.
Das führt zum zweiten Punkt: Um den Mittelstand unabhängiger von fossilen Energieträgern zu machen, muss die Politik den sozial-ökologischen Umbau der Unternehmen unterstützen. Drittens beklagen viele Mittelständler fehlende Fachkräfte – während fast jeder zehnte junge Mensch ohne Job oder Ausbildung dasteht. Auch hier muss die Ampel handeln.
"Zeitenwende" war das Wort des Jahres 2022. Was leiten Sie von dem Wort für die Mittelstandspolitik ab?
Für viele Mittelständler könnte 2023 zum Schicksalsjahr werden. Für die Mittelstandspolitik bedeutet dies ganz konkret: Allen voran müssen die Energiekosten sinken und das Auftreten einer Gasmangellage im kommenden Winter um jeden Preis verhindert werden. Ansonsten werden viele Mittelständler ihre Produktion zurückfahren, ins Ausland verlagern oder ihre Werkstore ganz schließen. So oder so: Für die Beschäftigten steht viel auf dem Spiel. Die Politik ist gefordert.
Wie beurteilen Sie zum Anfang des Jahres 2023 die wirtschaftlichen Aussichten für den Mittelstand?
Die gesamtwirtschaftlichen Aussichten haben sich glücklicherweise etwas aufgehellt. Zum Aufatmen ist es aber zu früh. Die Situation ist äußerst volatil und verändert sich im Monatstakt. Die Binse, dass die Krise nicht alle gleich trifft, gilt auch für den Mittelstand: Für energieintensive Branchen beispielsweise ist noch längst kein Land in Sicht.
Sie sind in der Linken-Fraktion für das Thema Mittelstand verantwortlich. Woher stammt die Begeisterung für den Mittelstand?
Mein Wahlkreis liegt in Duisburg im Ruhrgebiet und ich war lange Landesvorsitzender meiner Partei in Nordrhein-Westfalen. Unternehmen aus NRW? Da denken vermutlich viele nach wie vor an Kohle und Stahl und Konzerne wie RWE oder Thyssenkrupp. Was weniger bekannt ist: Im Ranking der 10.000 Top-Mittelstandsunternehmen nimmt NRW die Spitzenposition ein - mit Abstand. Gerade vor dem Hintergrund des Strukturwandels hat der Mittelstand eine enorme Bedeutung für unsere Gegend.
Sind Sie selbst unternehmerisch tätig (gewesen)?
Als Gewerkschaftsmitglied und Abgeordneter ergreife ich Partei für die Belange der abhängig Beschäftigten. Unternehmerisch tätig war ich dabei nie. Es sollte aber klar sein: Von einer sozial-gerechteren und friedlichen Politik profitiert auch der Mittelstand. Denn trotz Krise feiern Dax-Konzerne Rekordgewinne, während viele Mittelständler kämpfen müssen. Dass es gemeinwohlorientierte Initiativen wie den „Offene Wirtschaftsverband von kleinen und mittleren Unternehmen, Freiberuflern und Selbständigen“, kurz OWUS, gibt, kommt nicht von ungefähr.
Was zeichnet den deutschen Mittelstand für Sie besonders aus?
Der Mittelstand trägt entscheidend zur Wertschöpfung bei. Mehr als jeder zweite Arbeitnehmer arbeitet in einem mittelständischen Unternehmen, über 70 Prozent der Azubis sind im Mittelstand beschäftigt. Wirtschafts- und Innovationsförderung muss daher in erster Linie am Bedarf des Mittelstandes ausgerichtet werden und der Missbrauch ökonomischer Macht durch Konzerne wettbewerbs- und steuerrechtlich in die Schranken gewiesen werden.
Was ist für Sie der wichtigste Faktor für die Widerstandsfähigkeit von KMU?
Der deutsche Mittelstand zeichnet sich durch einen hohen Grad an Spezialisierung und Konkurrenzfähigkeit aus. Soll das so bleiben, muss jetzt in Fragen der Digitalisierung oder der ökologischen Transformation ordentlich Dampf gemacht werden. Dafür braucht es auch eine entschlossene Regierung, die den Unternehmen industriepolitisch unter die Armen greift – ob dies ohne eine längerfristige Abkehr von der Schuldenbremse gelingt, ist allerdings zu bezweifeln.
Der Mittelstand steckt in der Polykrise. Wann und wie kommen wir aus der Krise?
Kurzfristig muss die Zufuhr von günstigem Gas sichergestellt werden – mittelfristig braucht es allerdings eine ökologische Modernisierung des Mittelstands. Dafür bedarf es großer Investitionen, die viele Unternehmen alleine nicht stemmen können. Hier braucht es eine aktive, sozial ausgerichtete Industriepolitik des Staates. Zudem muss die Nachfrage gestärkt werden: Nur wenn die Menschen Geld ausgeben können, kommt es auch in der Wirtschaft an.