30.07.2021Fachbeitrag

Die Lean-Start-up-Methode im Mittelstand

Der Lean-Start-up-Ansatz ermöglicht eine kostengünstige und schnelle Umsetzung neuer Produkte und Geschäftsideen. Eine vielversprechende Zukunftslösung für marktnahe neue Geschäftsfelder und die interne Entwicklung.

 

Bei der Gründung von Start-ups ist die Lean-Start-up-Methode derzeit in aller Munde. Aber auch für die Entwicklung und Umsetzung neuer Geschäftsideen im Mittelstand bietet der Ansatz große Potentiale. Die Unternehmensberater Christine Günther und Oliver Fietz stellen die Methode vor und erklären, was bei der Umsetzung zu beachten ist. Ein Beispiel aus der Praxis zeigt zudem, welche ungeplanten positiven Nebeneffekte Lean-Start-up mit sich bringen kann.

Lean-Start-up ist eine Methode zur Entwicklung von Geschäftsmodellen und Produkten. Die Hauptintention besteht darin, Entwicklungszyklen zu verkürzen und Produkte oder Modelle über einen iterativen Prozess kostengünstig zur Reife zu bringen. Die Vorteile sind also ein geringerer Ressourceneinsatz, schnellere Erfolge, marktnähere Ergebnisse und vor allem das geringere Risiko des Scheiterns. Das gelingt vornehmlich darüber, dass Produkt- oder Geschäftsmodellinnovationen schnell und kostengünstig auf ihre Markttauglichkeit geprüft werden.

In diesem Zusammenhang wird meist von der Erstellung eines MVP (minimal viable product, Prototyp) gesprochen, der auf Basis von vorläufig getätigten Annahmen über die Kundenbedürfnisse entwickelt wird. Dieser MVP wird dann umfangreich bei den Kunden getestet. Je nach Branche, Produktart, B2C- oder B2B-Ansatz sieht dieser Prozess natürlich gänzlich unterschiedlich aus.

Das Feedback geht direkt in die Weiterentwicklung des MVP oder – bei schlechten Ergebnissen – in die Neuentwicklung. Dieser Prozess läuft iterativ und solange bis die Sicherheit über den Markterfolg die Investitionen für die finale Produkt- bzw. Geschäftsmodellentwicklung rechtfertigt. Gleichzeitig ist der Markt durch diesen Prozess schon auf die Innovation freudig vorbereitet worden und es konnten wertvolle Erkenntnisse über die bestmögliche Vermarktung gewonnen werden.

 

Potentiale und Grenzen der Methode für das Gesamtunternehmen

Klassischerweise ergibt sich eine Produkt- und Geschäftsmodellentwicklung zumeist aus dem, was ingenieurtechnisch möglich ist (etwa höhere Motorleistung beim Kfz), vom Unternehmen strategisch gewünscht wird (etwa hybride Kfz-Antriebe) oder (vermeintlich) im Trend befindlich ist (etwa 0%-Finanzierung ohne Anzahlung). Das wahre Kundenbedürfnis wird dadurch aber nur in wenigen Fällen befriedigt. Jedoch hat das Unternehmen, das sich die Mühe macht, ausschließlich kundenbezogen und schlank („lean“) zu entwickeln, die Chance auf ein Alleinstellungsmerkmal. Zudem kann eine neue Produktgattung gestaltet und besetzt werden und Kunden zu Fans gemacht werden. In der Reihe der stichwortartigen Beispiele vielleicht die sorgenfreie Mobilität zum nutzungsabhängigen, flexiblen Monatspreis wie beim „Auto-Abo“.

Die Wirkung auf Kundenbindung, Akzeptanz höherer Preise, Marge und schließlich auf die Investitionsrendite ist offensichtlich. Gelingt es diese Methode zum allgemeinen Prinzip werden zu lassen, wird das Unternehmen wirklich zukunftsfähig. Die Gesamtstrategie richtet sich am Markt aus, exogene Veränderungen können leicht pariert oder gar proaktiv genutzt und Ineffizienzen in der Zusammenarbeit reduziert werden.

Seine Einsatzgrenzen findet die Lean-Start-up-Methode allerdings regelmäßig bei langen Entwicklungszyklen – zum Beispiel mit spezifischen Anteilen an Grundlagenforschung. Bei komplexen Produkten und Angeboten wird das Testen bei den Kunden zur Herausforderung. Oft ist dies nur über ein Ersatzprodukt oder über theoretischen Befragungen möglich, wodurch sich das tatsächliche Kundenbedürfnis nur bedingt ermitteln lässt.

 

Was ist bei der Umsetzung zu beachten?

Entscheidend ist die Identifizierung der für das Unternehmen passenden Herangehensweise zur Testung des MVP. Bei der Umsetzung spielen viele Kompetenzen eine Rolle, die oft in den Regelprozessen nicht benötigt werden. Dazu zählen Mut, Fehlertoleranz, Denken in Chancen, Vernetzung mit Außenstehenden, Digital/IT-Know-how, Kreativität und die Bereitschaft vorgegebene Prozesse „neu zu denken“. Gleichzeitig braucht es aber auch die Erfahrung, das Kundenwissen, die Kenntnisse über die Kernprodukte, die interne Vernetzung und ganz besonders die Unterstützung der Unternehmensleitung.

Erfahrungsgemäß gelingt dieser Spagat, in dem das junge Pflänzchen (Verprobungs- und Aufbauphase) in einem vom Unternehmen geschützten Raum – quasi ein Gewächshaus – entwickelt wird, für den in gewissen Umfang andere Spielregeln gelten. Aus diesem Stadium wird die Kleinkultur aber nie herauskommen, wenn nicht von vorneherein das Ziel besteht, nach der Absolvierung definierter Meilensteine, daraus eine Plantage neben den anderen Plantagen des Unternehmens zu machen. Denn ab einem gewissen Zeitpunkt muss die Pflanzkultur Signifikanz entwickeln und im rauen internen Wettbewerb um Ressourcen und Akzeptanz bestehen. Manchmal stellt sich aber im Laufe des Zuchtprozesses heraus, dass die mittelfristige Zukunft des Unternehmens nicht mehr im Plantagenbau, sondern gar im Bau und Betrieb von Gewächshäusern liegt. Ein klarer Vorteil der Lean-Startup-Methode auch solche disruptiven Chancen händelbar werden zu lassen.

Nicht zu unterschätzen, um neben Lean-Startup noch ein Modewort zu bedienen – ist der positive Effekt durch Co-Creation bei der Umsetzung. Dies bedeutet einfach, dass sich neue Kompetenzen schneller und leichter über Kooperationen gewinnen lassen. Zudem wird das Entwicklungsrisiko und die Entwicklungskosten reduziert. Der vermeintliche Verlust an Kontrolle und vollem Ergebnisbeitrag kann durch die Chance, vielleicht sogar mehrere neue Zugpferde parallel entwickeln zu können, mehr als ausgeglichen werden.

 

Aktuelles Beispiel für die interne Entwicklung eines Mittelständlers durch Lean-Start-up

Aus der Not eine Tugend machte der mittelständische Sondermaschinenhersteller in der digitalen Transformation: Die Regulierung forderte die lückenlose und exakte Nachverfolgung vom Point of Sale zurück bis zur Produktion, um Produktrückrufe zu ermöglichen. Der Verpackungsmaschinenhersteller hätte die Nachverfolgbarkeit für den Einsatz seiner eigenen Produkte technisch umsetzen müssen. Die Vision ging aber weiter. Warum nicht über das eigene Geschäft hinaus eine digitale Lösung zur Vernetzung der gesamten Wertschöpfungskette für den Point of Sale abzubilden? Wie konnte das mit hoher Erfolgswahrscheinlichkeit, begrenztem Investitions- und Zeitbedarf und über die Unternehmensgrenzen hinweg gelingen? Kundenorientierung, Vernetzung, angepasste Führungsinstrumente und finale Überführung in die Regelorganisation sind dabei die Hauptzutaten gewesen. Der Kern des Lean-Start-up-Ansatzes also.

Der Maschinenhersteller wagte sich auf neues, unbekanntes Terrain vor. Zuallererst galt es die Bedürfnisse der anderen Teile der Wertschöpfungskette zu verstehen und in Lösungen zu transferieren. Für beides ist eine Vernetzung mit anderen Marktteilnehmern wichtig, die auch gerne in die Lösungskreierung eingebunden werden können. Gerade, wenn auf einmal mehr IT-Kompetenz als zuvor benötigt wird und sich das Alleinstellungsmerkmal dabei vor allem aus der IT ergibt.

Auch für die Unternehmenssteuerung ist das eine Herausforderung. So misst sich Erfolg nicht mehr in Margen, Durchlaufzeiten, Excellenzgrößen und exakte Planerreichung wie traditionell im Kerngeschäft. Innovationsschleifen, Misserfolge, Verzögerungen, Fehlannahmen, Budgetüberschreitungen sind ebenso zu managen, wie ein wenig planbarer Erfolg mit plötzlichen Ressourcenengpässen.

Der Maschinenhersteller hat bald erkannt, dass das neue digitale Geschäft die volle Unterstützung der Gruppe benötigt, Teil der Gesamtstrategie werden muss und schlussendlich nach der Aufbauphase im geschützten Raum einen festen Platz in der Regelorganisation finden musste. Vier Jahre nach Start trug das neue Geschäftsfeld bereits 5% zum Gesamtumsatz mit einem zukunftsfähigen Geschäftsmodell bei. Und für den Maschinenbauer mit angeschlossener Service- und IT-Abteilung ist nun das Potential Lösungspartner zu werden greifbar. Die Erlösmodelle basieren statt auf Hardware und Maschinen auf skalierbarer Software und Services.

 

Teil des Wegweisers Mittelstand trifft Start-up

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