19.01.2023Interview

Digitale Skills: „Talent Analytics hat hier keine Tradition“

Fragt man Unternehmerinnen und Unternehmer nach den digitalen Kompetenzen ihrer Mitarbeiter, erhält man zumeist recht vage Antworten: „gut“ oder „ausbaufähig“ – aber was heißt das schon?

Roman Rüdiger ist CEO von talent::digital und macht digitale Kompetenzen in Unternehmen und Organisationen mess- und steuerbar. Dadurch werden digitale Skills entwicklungsfähig. Den Ansatz, den das preisgekrönte Start-up aus Düsseldorf dabei fährt, nennt sich „serious gaming“. Was sich hinter dem Begriff verbirgt, welche Einsatzmöglichkeiten sich daraus für den Mittelstand ergeben und warum sich neue Kompetenzen spielend leicht erlernen lassen, erfahren Sie im DMB-Interview.   

DMB: Hallo Herr Rüdiger, talent::digital wird als „cloud-basierte Empowerment-Plattform“ beschrieben. Klingt gut, aber was ist das denn genau?

Roman Rüdiger, CEO talent::digital: Wir betrachten uns als eine Innovation im Bereich des Corporate-Learning für die Bereiche B2B und B2G, also für Wirtschaft und für die öffentliche Verwaltung. Und wir Innovieren an zwei konkreten Punkten, an denen wir einen bestehenden Missstand beheben. Das eine ist die Wirksamkeit von Qualifizierungen und Fortbildungen. Einerseits hören wir das aus vielen Organisationen und Unternehmen, andererseits ist es auch empirisch belegt – dass vieles, was im Bereich Corporate-Learning bzw. in der Qualifizierung oder beim Upskilling passiert, nicht wirksam ist. Zu diesem Ergebnis kommt beispielsweise eine große Befragung von Stepstone und Kienbaum aus dem Jahr 2021 mit über 80.000 Befragten. Über die Hälfte der Befragten haben in der Untersuchung gesagt, dass sie das, was ihnen an Qualifizierungsmaßnahmen angeboten wird, als unwirksam betrachten.

Wir führen den Beweis, dass wir mit unserer Methode, also mit "serious gaming", das Thema Corporate-Learning besser machen können. Wenn serious gaming gut gemacht ist, dann ist es intrinsisches Lernen. Das merken wir zum Beispiel daran, dass einige die Qualifizierungen, die wir gebaut haben, am Wochenende freiwillig nutzen, oder aber auch auf dem Weg zur Arbeit in den öffentlichen Verkehrsmitteln. An solchen Beispielen merken wir, dass wir etwas gebaut haben, was über den Content hinaus attraktiv ist: Gut gemachtes Edutainment kann intrinsisches Lernen bewirken. Das machen wir eben, indem wir zu den Qualifizierungsthemen der Unternehmen passgenaue Serious Games bauen.

Der zweite Punkt, an dem wir Innovieren, ist gar nicht so sehr ein Missstand, sondern eigentlich ein Potenzial, was brachliegt. Wir leben im digitalen Zeitalter. Und Unternehmen sind inzwischen sehr gut darin, mit digitalen Daten von Maschinen umzugehen. Im Bereich Personal passiert das allerdings fast nie. Es gibt kaum Unternehmen, die in der Lage sind, valide zu sagen, welche Kompetenzen bei den Mitarbeitenden vorhanden oder nicht vorhanden sind und wo es Skill-Gaps gibt. Es geht um valides Messen von Kompetenzen, digitales Aufbereiten der Daten, um damit Personalentwicklung zu steuern. Datengeführte Personalentwicklung oder auch „Talent Analytics“. Das wollen wir Unternehmen ermöglichen. Deswegen basiert unser Konzept einerseits auf “Learning by Gaming” und andererseits auf “Data Driven Empowerment”.

Wie ist Ihr Eindruck von digitalen Skills im Mittelstand? Und warum sollten sich mittelständische Unternehmerinnen und Unternehmer gerade mit dem Thema der digitalen Skills der eigenen Belegschaft auseinandersetzen?

Laut einer Studie von Gartner scheitern rund 60 % aller Digitalisierungs-Projekte. Und die allerwenigsten davon aufgrund von Hard- oder Software, sondern an den fehlenden digitalen Skills oder dem fehlenden digitalen Mindset in Unternehmen. Hieran erkennt man auch schnell, welche Unternehmen zu den Digitalisierungsgewinnern gehören – und welche nicht. Wir sehen, dass das digitale Mindset in der Breite im Mittelstand nicht stark ausgeprägt ist. Wir sehen ein Phänomen, das man mit einem langgezogenen Kaugummi vergleichen kann: Du hast im Unternehmen einige Mitarbeiter mit einer hohen Digitalkompetenz. Diese Personen gehen voran und sagen "Ich habe eine Idee, was man aus diesem Unternehmen machen kann, wie man es digitaler aufstellen kann". Davon ist dann auch oft die Geschäftsführung überzeugt. Und dann wird angefangen, nach innen zu kommunizieren: “In folgende Richtung entwickeln wir uns. Das ist unsere Chance in der Digitalisierung.” In der Folge gibt es Mitarbeiter, die das hören und dann denken "das kostet mich meinen Arbeitsplatz". Oder "ich verstehe das nicht, ich weiß nicht, ob ich diesen Weg mitgehen kann."

Also da sind die Treiber an der Vorderseite und die Ängstlichen am anderen Ende des langgezogenen Kaugummis. Und in der Mitte hast du die ganzen Team- oder Abteilungsleiter, die versuchen, das ganze Gebilde elastisch und funktional zu halten. Und an diesen sehr unterschiedlichen Erwartungen, Kompetenzen und Geschwindigkeiten scheitern dann oft Digitalisierungsprojekte.

Sie müssen für die Entwicklung eines "Serious Games" sehr tief in Inhalte eintauchen, um diese in vermittel- und erlernbare Kompetenzen zu unterteilen. Gibt es neben dem angesprochenen "Digitalen Mindset" bestimmte Kompetenzen, die jeder Mitarbeiter im Mittelstand "können" sollte? Kann man das generalisieren?

Ja. Wir arbeiten einerseits im Wesentlichen mit einem Framework der Europäischen Kommission. Das hat den etwas seltsamen Namen "DigComp 2.1" und definiert 21 digitale Kompetenzen in fünf verschiedenen Kompetenzbereichen. Und wenn man zumindest diese fünf Kompetenzbereiche nimmt, dann ist es sicherlich von Vorteil, wenn ein Mindestmaß an Verständnis in diesen fünf Kompetenzbereichen vorhanden ist. Das heißt, du hast dann “IT Sicherheit”, “Lösung von Problemen”, “Gestaltung digitaler Inhalte”, “Kooperation & Kommunikation” oder den “Umgang mit Daten”. Das sind diese fünf Bereiche im Sinne einer Grundqualifizierung oder auch digitale Literacy. Das ist, heutzutage notwendig. Zum Beispiel, um sehr schnell und effizient zu kommunizieren, zum Beispiel aber auch, um die IT-Schutzrichtlinien im Unternehmen einzuhalten. Das ist ja nicht so, dass die Unternehmen, die Opfer von Cyberattacken werden, keine Konzepte hätten, sondern sie haben die Schwachstellen, weil die Mitarbeitenden nicht in der Lage sind, diese Konzepte umzusetzen.

Klassische Qualifikation und Weiterbildung hat unter Corona stark gelitten. Was sind die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale von talent::digital zu klassischen Weiterbildungsformaten?

Wir treten mit dem Versprechen an, dass Up- und Reskilling emotional anregend wird. Also man lernt gerne mit uns. Das meint "Edutainment", was ich vorhin genannt habe. Aber darüber hinaus treten wir auch an, um Lernen möglichst handlungsnah zu gestalten. Und wenn man versucht zu beschreiben, was eigentlich der Vorteil von serious gaming ist, dann kann man sich das wie beim Autofahren vorstellen.

Also eine ganz simple Frage: "Würden Sie jemandem den Führerschein geben auf Grundlage seiner Selbsteinschätzung?" Nein, natürlich nicht. "Würden Sie jemand einen Führerschein geben auf Grundlage einer theoretischen Prüfung?" Alleine wahrscheinlich auch nicht, sondern es braucht eine theoretische und eine praktische Prüfung. Wenn Unternehmen sich aber tatsächlich anschauen, wie sie Personalentwicklung betreiben, dann werden zu einem großen Teil Tools genutzt, die auf Selbsteinschätzung basieren. Zum Teil werden sehr theoretische Tools eingesetzt. Und hier unterscheiden wir uns. Durch die Serious Games bauen wir Simulationen, zum Beispiel von Prozessen, von Software, von Maschinen oder, wenn es um andere Skills geht, wie zum Beispiel Agilität, dann bauen wir entsprechende Business Cases. Immer 100% zugeschnitten auf das Unternehmen, mit dem wir zusammenarbeiten. Wir versuchen, das Lernen und die Messung der vorhandenen Kompetenzen möglichst handlungsnah abzubilden. Unsere User lernen in Szenen, die sie aus dem Alltag kennen und an Problemen, die sie täglich lösen müssen.

Gibt es bestimmte Themenfelder oder Kompetenzbereiche, die sich besonders gut oder überhaupt nicht als serious game anbieten?

Das ist eine spannende Frage. So genau können wir das gar nicht sagen. Wir können aber von unseren Erfahrungen sprechen. Also generalisiert kann man sagen überall da, wo die Lernziele klar sind und benannt werden können, überall da kann man das sehr gut machen. Wir nennen das Framework. Über ein digitales Framework haben wir ja eben schon gesprochen. Ein anderes Framework, was wir operationalisiert haben, ist zum Beispiel das Framework "Compliance im Pharmabereich". Das ist genau beschrieben, da gibt es 37 definierte Regeln. Es ist sehr einfach, das als Serious Game umzusetzen. Ein anderes Framework, was wir gerade für ein großes Chemieunternehmen machen, ist ein Framework zum Thema Kreislaufwirtschaft, das aus dem Verständnis des Unternehmens heraus extrahiert wird. Ein Framework ist für uns also wichtig, weil sonst die Möglichkeit fehlt, in der Software eine genaue und valide Messung des vorhandenen Wissens und Könnens vorzunehmen. Bislang gelingt es uns aber auch sehr gut, entweder passende vorhandene Frameworks zu finden oder eigene mit den Kunden zusammen zu bauen. Sofern man eine klare Definition von Lernzielen hat auf der Ebene von Wissen und Können, ist es für uns auch in der Regel sehr gut möglich, daraus ein Game zu machen.

Kann man mit Ihren Tools ermitteln, wie digitale Kompetenzen im Unternehmen vorhanden und verteilt sind? Auch entlang des Kaugummi-Beispiels von vorhin?

Ja, das kann man tatsächlich machen. Das heißt, es ist ja eine der beiden Funktionen von unseren Serious Games. Das eine ist das Lernen in simulierten Anwendungsfällen. Das andere ist das Prinzip "test and train". Das bedeutet, wir messen während der Bearbeitung der Aufgaben in dem Serious Game. Wir messen kontinuierlich, was an Wissen und Können vorhanden ist und stellen es in „Realtime Cockpits“ für unsere Kunden übersichtlich dar.

Es geht also. Wichtig ist aber zu verstehen, das allgemeine Aufgaben oft zu unspezifisch für Unternehmen sind. Die Mitarbeitenden machen Serious Games besonders gerne, wenn sie spezifisch sind und relevante Pain Points adressieren.  Überall, wo man konkrete Problemfälle gamifiziert, da funktioniert es sehr gut.

Ein Beispiel: Wir haben einen Kunden mit Sitz in Deutschland mit 3000 Mitarbeitenden. Das Unternehmen hat entschieden, dass sie ihren Marktauftritt komplett verändern. Früher wurden Produktverkäufe im Bereich Gebäudemanagement gemacht. Und heute geht das Unternehmen zu seinen Kunden hin und verspricht "Wir helfen euch, CO2 einzusparen und eure Nachhaltigkeitsziele zu erreichen". Das heißt, das Unternehmen stellt sich auf dem Markt komplett neu auf. Solution-Sales statt Product-Sales. Und von den fast 200 Vertriebs-Mitarbeitern wird verlangt, dass sie komplett anders agieren. Und so etwas lässt sich super in einem Serious Game als Lernfall umsetzen. Gleichzeitig kann auch gemessen werden, wie weit sind die Vertriebler eigentlich im Mindset Change? Da ist natürlich der Bedarf unter den Mitarbeitenden, sich schnell umzustellen, sehr hoch und entsprechend ist dann auch die Eigenmotivation. Wenn man einen tatsächlichen Problemfall hat, dann funktionieren unsere Lösungen besonders gut.

Wird Ihr Produkt dann insbesondere vor einem Personalentwicklungshintergrund gekauft?

Bislang muss man sagen: zu wenig. Wenn man die beiden Funktionen - learning by gaming und valide Datenerhebung für die Steuerung der Personalentwicklung- nimmt, dann schätze ich das Interesse so bei 70 zu 30 ein. Also das ganze Thema Lernen und individualisierte Games finden viele spannend. Aber dass die Personalverantwortlichen sagen, ich habe jetzt endlich mal valide Daten, um den Up- und Reskilling-Prozess in meinem Unternehmen tatsächlich zu steuern, das setzt sich sehr, sehr langsam durch. Talent Analytics hat noch keine Tradition hierzulande.

Das Potenzial neuer Technologien oder digitaler Umgebungen wie beispielsweise dem Metaverse werden vor dem Hintergrund von Qualifizierung und Weiterbildung oft betont. Beschäftigen Sie sich mit solchen Zukunftstechnologien?

Wir sind selber sehr interessiert daran. Weil wir uns natürlich auch mit allen neuen Technologien als digitales Start-up auseinandersetzen. Aber der Markt ist noch nicht da. Vor allem, weil die genannten Beispiele im Metaverse einfach sehr viel kostenintensiver wären als das, was wir im Moment machen. Ich habe auch bislang nur von einem großen IT-Unternehmen gehört, das flächendeckend konkretes Upskilling-Projekt im Metaverse betreibt. Das ist in der breiten Masse überhaupt noch kein Thema. Momentan ist es eher noch so, dass wir das, was wir an Software bauen, oft auf Wunsch von Kunden vereinfachen müssen.

Kann man eins Ihrer Serious Games mal ausprobieren?

Man kann eine Demo spielen über unsere Seite www.talentdigital.eu. Das heißt, man kann sich da selber onboarden, ein Tutorial oder eine erste Episode spielen und sich einen Eindruck machen. Und immer wenn es spezieller sein soll, wenn man eine spezifische Frage hat oder einen eigenen Business Case, dann ganz einfach bei uns melden. Wir betreuen Kunden sehr gerne individuell.

 

Vielen Dank für das Gespräch!  

Dieses Interview ist Teil von Mittelstand WISSEN zum Thema Digitale Skills von Mitarbeitern: Welche Kompetenzen wichtig sind

 

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