23.05.2022Interview

Mit der studienintegrierenden Ausbildung zu mehr Fachkräften

Bei der studienintegrierenden Ausbildung lernen die Studierenden die berufliche und die akademische Welt parallel kennen.

Heute stehen viele junge Menschen nach ihrem Schulabschluss vor der Frage, ob sie ein Studium oder lieber eine Ausbildung beginnen sollen. Die Berufliche Hochschule Hamburg (BHH) ermöglicht mit der studienintegrierenden Ausbildung einen Weg, beides miteinander zu vereinen. Für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) bringt das bei der Sicherung ihres Fachkräftebedarfs Vorteile. Welche dies sind und wie das Konzept der studienintegrierenden Ausbildung aussieht, erklärt Prof. Dr. Uwe Schaumann von der BHH in diesem Interview.

Herr Prof. Dr. Schaumann, wie sieht das Konzept der studienintegrierenden Ausbildung aus?

Bei der studienintegrierenden Ausbildung (kurz: siA) handelt es sich um eine besondere Form des dualen Studiums. Sie beinhaltet im Kern eine sehr starke curriculare und organisatorische Verzahnung von Studium und dualer Berufsausbildung in vier betriebswirtschaftlichen und einem Informatik-Bildungsgang. Die Lernorte in Ausbildung und Studium werden als gleichberechtigte Bildungspartner verstanden. Die siA berücksichtigt dabei sowohl die Anforderungen, die an ein Bachelor-Studium einer Hochschule gestellt werden als auch die Anforderungen, die im Rahmen einer beruflichen Erstausbildung berücksichtigt werden müssen.

Bei der Gestaltung der Bildungsgänge wurde und wird im Rahmen der curricularen Verzahnung intensiv darauf geachtet, Fachinhalte, die sowohl im Rahmen der Berufsbildung als auch im Studium vermittelt werden, nicht unnötig zu doppeln. In den berufsspezifischen Bildungsgängen sind deshalb auch Anrechnungen von studiengeeigneten Berufsschulinhalten möglich, die in einem aufwändigen Prozess und in enger Abstimmung mit den Berufsschulen auf die höheren Anforderungen an Studieninhalte angepasst worden sind. Die Anforderungen in einem akkreditierten Studiengang orientieren sich am Deutschen Qualifikationsrahmen (DQR). Mit dem DQR werden insgesamt acht Kompetenzniveaus von Bildungsabschlüssen unterschieden und transparent gemacht. Die beruflichen und akademischen Abschlüsse im deutschen Bildungssystem können somit den unterschiedlichen Stufen des DQR zugeordnet werden. Ein Bachelor-Abschluss wird im DQR der Stufe 6, ein Ausbildungsabschluss nach einer 3- oder 3,5-jährigen Ausbildung der Stufe 4 zugeordnet.

Darüber hinaus gibt es in allen Bildungsgängen der BHH verschiedene Praxismodule, mit denen die individuelle betriebliche Praxis zum Gegenstand einer fundierten wissenschaftlichen Auseinandersetzung durch die studierenden Auszubildenden gemacht wird. Hierbei erfolgt eine intensive Begleitung durch die Professor*innen und Dozent*innen der Hochschule. Des Weiteren setzen sich die studierenden Auszubildenden im zweiten Teil des Studiums in einem sogenannten Capstone-Projekt mit aktuellen wissenschaftlichen Themen mit hoher Praxisrelevanz in Kleingruppen auseinander. Ein Capstone-Projekt stellt an der BHH ein besonderes hochschuldidaktisches Instrument zur Förderung unterschiedlicher fachlicher, methodischer, sozialer und persönlicher Kompetenzen dar. Es setzt umfangreichere Kenntnisse von betriebswirtschaftlichen Inhalten voraus und fördert die gemeinsame Bearbeitung eines Projekts im Studium.

Zum Kern des Konzepts der studienintegrierenden Ausbildung gehört auch die organisatorische Verzahnung der Lernorte. Denn die verschiedenen beruflichen und akademischen Lernorte sind oftmals bestimmt durch ein zum Teil historisch-institutionell geprägtes und gewachsenes Selbstverständnis mit bewährten Routinen und Abläufen sowie durch das Eingebundensein in ein formal-rechtlich notwendiges System von Prozessen mit Terminen und Zeitfenstern, die zuweilen wenig Spielraum und Flexibilität liefern oder zulassen. Auch diese - für das Erreichen didaktischer Ziele - zwingend notwendige organisatorische Abstimmung ist an der BHH mit allen relevanten Bildungspartnern frühzeitig begonnen worden und führt mit den bisherigen Erkenntnissen zum Ende des ersten Studienjahres 2021 an der BHH zu einem zunehmend belastbaren und organisatorisch gut umsetzbaren Konzept, mit dem die Anforderungen der unterschiedlichen Lernorte in Ausbildung und Studium insbesondere durch die studierenden Auszubildenden bisher gut bewältigt werden können.

Welche Vorteile bieten die Bildungsgänge der Beruflichen Hochschule für Auszubildende bzw. Studierende im Unterschied zu einer klassischen Ausbildung oder einem Studium?

Im Rahmen der studienintegrierenden Ausbildung lernen die Studierenden beide Welten, also die berufliche und die akademische parallel kennen. Sie erleben in diesem Zusammenhang insbesondere in den Praxismodulen, welche Rolle ihre berufliche Praxis für das Studium und umgekehrt spielt. Durch die studienintegrierende Ausbildung lernen sie in den betriebswirtschaftlichen Bildungsgängen, wie sich praxis- und berufsbezogene Fragen und Problemstellungen mit Hilfe der Betriebswirtschaft analysieren und beurteilen lassen. Des Weiteren werden den Studierenden in den berufsbezogenen Bildungsgängen Teile der Ausbildung auf das Studium angerechnet. Ein solcher Synergieeffekt wäre beim Absolvieren „nur“ einer Ausbildung oder „nur“ eines Studiums nicht möglich.

Im Laufe von Ausbildung und Studium erkennen sie über einen Zeitraum von insgesamt vier Jahren zunehmend ihre Interessen und Neigungen für unterschiedliche betriebliche Tätigkeits- und Einsatzfelder. In der betrieblichen Praxis erhalten sie während ihrer mehrjährigen Ausbildung direkte, unmittelbare Erfahrungen im Berufsleben und in ihrem Betrieb. Sie entwickeln sich damit zu kompetenten und gefragten Fachleuten, die aufgrund ihrer Ausbildung zunehmend anspruchsvollere berufliche Aufgaben im Betrieb bewältigen können.

Ein besonderer Vorteil ist auch das Angebot für ein Bildungswege-Coaching. Damit erhalten die studierenden Auszubildenden die Möglichkeit, sich innerhalb der ersten ca. 18 Monate ihrer Ausbildung - begleitet durch einen Bildungswege-Coach - ihre getroffene Bildungswegeentscheidung intensiv zu reflektieren und sich dabei über die aktuellen und künftigen Anforderungen nochmals im Klaren zu werden.

Welche Vorteile bieten die Bildungsgänge der Beruflichen Hochschule speziell für kleine und mittlere Unternehmen (KMU)?

Einer der womöglich größten Vorteile für Betriebe ist die Hervorhebung der Berufsausbildung und damit der Fachkräftequalifizierung als integraler Bestandteil eines Studiums im Sinne einer modernen Personalentwicklung, die sich nicht nur auf die Gestaltung von Fortbildungsmaßnahmen für Top-Performer beschränkt. Die Berufsausbildung bildet als wichtiger Teil einer individuum- und lebenslauforientierten Personalentwicklung eine, wenn nicht sogar die wichtigste Grundlage für qualifizierte Fachkräfte in der Wirtschaft. Für die Übernahme späterer Leitungs- und Führungsaufgaben benötigt man neben ausreichender Berufserfahrung auch eine umfangreiche betriebswirtschaftliche Basis. Beides wird in den betriebswirtschaftlichen Bildungsgängen der BHH durch die studienintegrierende Ausbildung von Anfang an ermöglicht und vermittelt.

Ein weiterer Vorteil ist die Steigerung der Attraktivität der Betriebe durch das Studienangebot an der BHH. Gerade bildungsstarke junge Menschen mit Interesse an einem Beruf und mit einer Hochschulzugangsberechtigung suchen nach passenden Ausbildungsangeboten, für die sie ihr Abitur auch nutzen können. Hier können engagierte Betriebe gegenüber Wettbewerbern ohne dieses besondere duale Studienangebot punkten.

Darüber hinaus können Betriebe, die eine studienintegrierende Ausbildung ermöglichen, auch eine relativ lange Phase des Kennenlernens und Ausprobierens für den Kompetenzaufbau nutzen und gestalten. Dadurch wissen sie zum Ende des vierjährigen Bildungsganges sehr gut, wer zu ihnen passt und welche anspruchsvollen und attraktiven Einsatzfelder für ihre Absolventen mittel- bis langfristig geeignet sind. Damit kann die überaus wichtige Mitarbeiterbindung guter Fachkräfte nochmals als besonderer Teil von Personalmanagement+ und Personalentwicklung besser gestaltet werden.

Ein weiterer Vorteil dürfte vor allem für die Betriebe interessant sein, die in absehbarer Zeit ihre Nachfolge regeln wollen bzw. müssen. Der Anteil von eigentümer- und familiengeführten Unternehmen in Handwerk und Mittelstand beträgt in Deutschland ca. 90 %. Gerade in kleineren Unternehmen ist die Frage, was mit dem Lebenswerk in der nächsten Generation passiert, Alltagsgespräch in vielen Familienunternehmen. Die Themen Unternehmertum und Unternehmensnachfolge bilden deshalb einen inhaltlichen Schwerpunkt im Studiengang BWL-KMU.

Seit wann verfolgen Sie diesen Ansatz und wie ist er entstanden?

Die BHH wurde zum 1. Januar 2020 als staatliche Hochschule gegründet. Für die Entstehung der Gründung ist jedoch das Jahr 2018 mindestens ebenso relevant. Denn per Einsetzungsverfügung wurde zum 5. Juli 2018 durch den Staatsrat der Behörde für Schule und Berufsbildung ein Projektteam mit unterschiedlichen Expertinnen und Experten aus dem beruflichen und hochschulischen Bereich eingesetzt, dass sich mit dem Profil, dem Lehrangebot und der Struktur der neuen Hochschule intensiv beschäftig und hierfür wichtige Vorarbeiten geleistet hat. Koordinierende Stelle war dabei das Hamburger Institut für Berufliche Bildung (HIBB), das als Landesbetrieb der Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB) 30 staatliche berufsbildende Schulen umfasst.

Im Mittelpunkt dieses komplexen bildungspolitischen Prozesses mit vielen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Anknüpfungspunkten stehen seit der Gründung der BHH die Stärkung der Attraktivität der dualen Berufsausbildung und die Erhöhung von Durchlässigkeit sowie die Schaffung von Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung. Mit der Verzahnung von beruflicher und hochschulischer Bildung soll eine attraktive Möglichkeit geschaffen werden, dem gravierenden Fachkräftemangel zu begegnen.

Gerade in Hamburg stellt diese Verzahnung in besonderer Weise eine Notwendigkeit und Chance für die Wirtschaft zugleich dar. Denn in Hamburg beträgt der Anteil der Schulabsolventen mit einer Hochschulzugangsberechtigung über 50 %. [1]

Was sind die Voraussetzungen für junge Menschen und Unternehmen, an der studienintegrierenden Ausbildung teilzunehmen?

Als formal wichtige Voraussetzung müssen alle Schulabsolventinnen und Schulabsolventen über eine passende Hochschulzugangsberechtigung verfügen. In der Regel ist dies das Abitur, aber auch die vollständige Fachhochschulreife berechtigt zur Aufnahme des Bachelor-Studiums. Des Weiteren werden in einem Studienvertrag sowie in einem Kooperationsvertrag alle wesentlichen Pflichten und Rechte zwischen Studierenden, Betrieben und Hochschule geregelt. Über die Details werden alle Beteiligten in individuellen Beratungsgesprächen informiert und Fragen hierzu von der Studienberatung der BHH beantwortet (Email: studienberatung@bhh.hamburg.de; Telefon: 040-428971140).

Neben den formalen Voraussetzungen dürften die wichtigsten persönlichen Voraussetzungen für junge Menschen die Freude, Bereitschaft und Motivation sein, zu Beginn ihres Einstiegs in die Arbeitswelt eine berufliche Tätigkeit in Handwerk oder Mittelstand erlernen und ausüben zu wollen. Hierdurch erwerben sie die umfangreichen Kompetenzen und machen wichtige Erfahrungen, die sie selber als spätere Leitungs- und Führungskraft benötigen, um die Geschicke eines Unternehmens (mit)zugestalten.

Des Weiteren benötigen die Studierenden besonders in einem dualen Studium auch ein gewisses Durchhaltevermögen, wenn es mal besonders anspruchsvoll wird. Der Wechsel der verschiedenen Lernorte in Ausbildung und Studium mit unterschiedlichen Anforderungen verlangt ein hohes Maß an Engagement, Flexibilität und Selbstdisziplin. In den bisherigen Rückmeldungen unserer studierenden Auszubildenden erfahren wir aber auch immer wieder, dass sowohl die Hochschule als auch die Betriebe, diese Erfordernisse sehr positiv unterstützen können, z. B. durch ein gutes Informationsmanagement und angepasste betriebliche Ausbildungspläne sowie den intensiven Austausch zwischen den Lernortvertretenden gegenüber den studierenden Auszubildenden.

Damit ist bereits eine der wichtigsten Voraussetzungen der Ausbildungsbetriebe genannt. Die Betriebe bzw. die Ausbildungs- oder Personalverantwortlichen sind überaus wichtige Ansprechpartner, vielleicht sogar eine Art Coach, für die studierenden Auszubildenden. Je klarer dabei betriebliche Perspektiven aufgezeigt, notwendige Unterstützung gewährt und Anforderungen, die man als Betrieb hat, kommuniziert werden, desto geringer werden die Herausforderungen und Probleme sein, die man als Betrieb zu bewältigen hat. Ein betrieblicher Ausbildungsplan bildet hierfür eine sehr gute Grundlage, die bei Bedarf auch angepasst werden kann.

Was sollten sich junge Menschen und KMU überlegen, wenn sie sich für das Programm der studienintegrierten Ausbildung interessieren?

Zunächst sollten sich junge Menschen mit einer Hochschulzugangsberechtigung überlegen, welche praktische berufliche Tätigkeit in einem Betrieb sie so fasziniert oder faszinieren könnte, dass sie hierüber einen Einstieg ins Arbeitsleben beginnen möchten. Vielleicht besteht noch die Möglichkeit, in einem interessanten Betrieb ein Praktikum oder einen Probetag zu absolvieren. Auch dies hilft vielen jungen Menschen, einen wichtigen ersten Eindruck zu bekommen.

Darüber hinaus sollten sich Interessenten für ihre berufliche Karriere auch vorstellen können, zunehmend anspruchsvolle betriebswirtschaftliche Aufgaben in einem Unternehmen übernehmen zu wollen. Damit wären die beiden Grundlagen für eine fundierte berufliche Ausbildung in Verbindung mit einem betriebswirtschaftlichen Studium gelegt.

Wer an beidem Interesse hat, sollte in weiteren intensiven Gesprächen mit der Studienberatung der BHH (Email: studienberatung@bhh.hamburg.de; Telefon: 040-428971140) überlegen, wie eine studienintegrierende Ausbildung in Hamburg aussehen könnte. Gemeinsam mit der Studienberatung werden dabei alle Fragen beantwortet und die offenen Punkte besprochen.

Zum Schluss möchte ich auf die im Titel dieses Beitrags aufgeworfene Frage nach der Zukunft der Fachkräftesicherung durch die studienintegrierende Ausbildung eine (noch vorläufige) Antwort geben. 

Die Berufsausbildung stellt im Konzept der studienintegrierenden Ausbildung als eine Art conditio sine qua non eine der stärksten Verankerungen regulärer Berufsausbildungen in dualen Studiengängen dar. Umfangreiche Entwicklungsarbeiten und die seit 2021 begonnenen Umsetzungen dieses Konzepts bilden den Startpunkt für einen sehr wichtigen Beitrag der Zukunft der Fachkräftesicherung. Ob dieser Beitrag maßgeblich sein wird, wird nicht zuletzt von der weiteren positiven Ausgestaltung des Begonnenen und der Bereitschaft der Unternehmen abhängen, sich mit den Möglichkeiten, aber auch Grenzen dieses Konzepts der Fachkräftesicherung weiter zu beschäftigen. Vielleicht wäre es an der Zeit, sich mit dem traditionellen Konzept der Fachkraft mit Blick auf die arbeitsweltbezogenen Vorstellungen jüngerer Generationen auch einmal intensiver zu beschäftigen. Dies wäre jedoch ein interessanter Ausgangspunkt für weitere Überlegungen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Dr. Schaumann!

 


[1] Vgl. Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Schule und Berufsbildung, Referat Datenmanagement (Hrsg.): Hamburger Schulstatistik Schuljahr 2020/21 Schulen, Klassen, Schülerinnen und Schüler in Hamburg. Hamburg, im Februar 2022, S. 23; online unter: https://www.hamburg.de/bsb/schulstatistik-zeitreihen/

Dieser Artikel ist Teil von Mittelstand WISSEN zum Thema "Personalbedarf im Mittelstand: So punkten Unternehmen bei Fachkräften"

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