28.04.2021Interview

Gesundheit 4.0 - Fluch oder Segen?

Welchen Einfluss haben digitale Technologien auf das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) und warum wirkt die Pandemie als „Wachmacher? Der DMB hat mit Prof. Dr. Martin Lange über Gesundheit 4.0 und BGM-Maßnahmen in Zeiten der Corona-Pandemie gesprochen.

DMB: Hallo Herr Lange, Sie sind engagierter Sportwissenschaftler und BGM-Experte.

Martin Lange: Genau! Ich begleite die Professur für Management im Gesundheitswesen an der IST-Hochschule in Düsseldorf. Thematisch kümmere ich mich um alles, was sich im Bereich Prävention und Betriebliche Gesundheit bewegt.

Außerdem bin ich im Vorstandsmitglied und Schatzmeister im Bundesverband Betriebliches Gesundheitsmanagement (BBGM). Als unabhängiger Fachverband vertreten wir pauschal alle Interessen von Unternehmern, Dienstleistern, aber auch die der Empfänger von Gesundheitsleistungen im Betrieb. Außerdem sind wir politisch aktiv – Wir setzen uns politisch dafür ein, dass Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen Leistungen erhalten und zeigen ihnen neue Wege auf. Wir setzen zudem auf Qualitätssicherung in der Betrieblichen Gesundheit.

Unser Thema heute ist Gesundheit 4.0 - Würden Sie den Begriff bitte kurz erklären?

Unter dem Begriff Gesundheit 4.0 fließen im Wesentlichen zwei Konzepte zusammen: Zum einen der digitale Transformationsprozess und zum anderen der Aspekt der Gesundheit. Man kann also auch sagen: Gesundheit 4.0 ist die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Die zentrale Frage lautet: Wie kann man digitale Prozesse und Anwendungen in das Versorgungswesen integrieren? Ein gutes Beispiel sind Tracking-Apps für die Gesundheit. Eine Smart-Watch, die deine Schritte zählt oder Apps, die dich zu mehr Bewegung oder gesunder Ernährung auffordern. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl weiterer Möglichkeiten – von der digitalen Arztsprechstunde bis zur Online-Apotheke. 

 

„Mit einer guten Balance können wir das Potential der digitalen Transformation sehr gut nutzen!“

Welche Bedeutung hat Gesundheit 4.0 für BGM?

Fluch oder Segen – Ich bin mir gerade nicht sicher, wie ich es nennen soll (lacht). Es gibt immer Vor- und auch Nachteile. Ich bin ein positiver und potentialorientierter Mensch. Von daher sehe ich im digitalen Transformationsprozess ein großes Potential für das Gesundheitswesen.

Betrachten wir das Ganze einmal näher: Zunächst kann man bisherige physische und analoge Angebote im Kontext betrieblicher Prävention weitestgehend digital umsetzen. Das hat den Vorteil, dass man sich von Raum und starren Strukturen löst. Die digitalen Angebote stellen somit eine Ergänzung zu bisherigen Angeboten dar. Und eine Ergänzung ist immer erstmal gut. Sie bietet eine breitere Palette und mehr Auswahlmöglichkeiten. Durch Datengenerierung – natürlich unter Einhaltung der DSGVO – kann man schnell und unkompliziert ein Stimmungsbild von der Belegschaft abfragen. Auch das ist eine Erleichterung. Zudem sind die Beschäftigten durch die digitale Transformation leichter erreichbar – über das Smartphone oder andere digitale Geräte.  All diese Punkte erleichtern den Prozess des Betrieblichen Gesundheitsmanagements enorm. Materialien können relativ schnell versendet werden, Infomaterialien sogar per Kurzvideo.

Und jetzt kommt die Kehrseite: Gesundheit 4.0 setzt voraus, dass meine Beschäftigten gut mit digitalen Medien umgehen können und ihnen nicht skeptisch gegenüberstehen. Diese Mitarbeiter*innen muss ich trotzdem mitnehmen: Kompetenzen aufbauen, einen sicheren Umgang mit digitalen Technologien etablieren und Vertrauen gewinnen. Mit einer guten Balance können wir das Potential der digitalen Transformation sehr gut nutzen!

Wie schafft man solch eine Balance?

Für mich ist das eine Einstellungsfrage. Hat man eine positive Einstellung zu neuen und ungewohnten Sachverhalten, kann Veränderung oftmals besser bewältigt werden. Dafür bedarf es sowohl einer positiven Fehlerkultur als auch einer grundlegenden Offenheit gegenüber neuen Sachen. Tödlich für Innovationen hingegen sind Sätze wie „Das haben wir noch nie so gemacht“ oder „Altbewährtes hat permanent Erfolg“. Man kann zunächst viel ausprobieren, kleine Schritte gehen und hinterher beurteilen, was wirklich einen Mehrwert bietet. Diesen Prozess kann man im Unternehmen gut gemeinsam stemmen.

 

„Halten Sie die Maßnahmen am Anfang simpel und orientieren Sie sich am Bedarf der Mitarbeiter!“

Welche digitalen Gesundheitsangebote gibt es für kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) und wie können diese umgesetzt werden?

Es gibt sehr viele, doch man kann sie in die Bereiche Information, Organisation, Motivation und Datenanalyse clustern.

Im Bereich Information kann ich via Intranet oder Mail-Verteiler Informationen zur Verfügung stellen. Das ist kostengünstig. Ich nutze sozusagen bestehende Systeme, um grundsätzlich über meine Gesundheitsangebote zu informieren. Wer ist die Betriebsärztin oder der Betriebsarzt, wann finden Impf-Veranstaltungen statt und welche Präventionsmaßnahmen bietet das Unternehmen an?

Außerdem kann ich dank digitaler Angebote relativ schnell verschiedene Dinge organisieren. Mitarbeiter*innen können sich selbstständig organisieren und gemeinsam Gesundheitskurse wahrnehmen. 

Viele Krankenkassen bieten mittlerweile Apps an, um Interessierte zu motivieren und durch spielerische Inhalte zu pushen. Bei der Datenanalyse verhält es sich ähnlich wie bei der Mitarbeiterbefragung: Sie geht schnell, ist simpel und kostengünstig. Und man weiß, was die Beschäftigten wollen.

Wie setze ich als Unternehmen nun digitale Angebote um? Zunächst einmal muss ich mich entscheiden, wofür ich digitale Technologien nutzen möchte und in welchem Segment – Information, Organisation, Motivation oder Datenanalyse? Krankenkassen, Berufsgenossenschaften und die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung sind gute Ansprechpartner bei der Umsetzung digitaler Gesundheitsangebote. 

Welchen Mehrwert bieten digitale Technologien KMU?

Definitiv eine Ressourceneinsparung. Man kann relativ viele Menschen mit einem hohen Einmalaufwand erreichen. Nehmen wir das Infoblatt als Beispiel: Sie müssen nicht mehr zig Blätter für das schwarze Brett ausdrucken, sondern schreiben einmalig eine Mail an alle Beschäftigten. Und das spiegelt sich in allen Bereichen wider. Digitale Technologien sind eine super Ergänzung, um bestehende Prozesse zu erleichtern.

Umgekehrt gefragt: Welche Herausforderungen und Schwierigkeiten bereiten neue, digitale Technologien KMU?

Zum einen ist die erstmalige Etablierung digitaler Technologien häufig mit einem zeitlichen Aufwand verbunden. Zum anderen ist nicht jeder offen für neue Angebote. Man sagt auch „digital neglect“ dazu. Es ist eine Einstellungssache. Arbeitgeber*innen müssen die Kompetenzen ihrer Mitarbeiter*innen im Blick haben und jeden einzelnen mitnehmen. An dieser Stelle helfen Flurgespräche oder Befragungen: Ist Interesse vorhanden? Prävention funktioniert nur, wenn die Leute  eine gewisse Absicht haben, präventiv tätig zu sein. Ist das nicht der Fall, muss ich zunächst Aufklärungsarbeit leisten. Schritt für Schritt vorgehen, realitätsnah und anwendungsbezogen. Halten Sie die Maßnahmen am Anfang simpel und orientieren Sie sich am Bedarf der Mitarbeiter! Im Verlauf können Sie den Prozess dann immer noch fein justieren und die Zielausrichtung präzisieren.

 

Die Pandemie als Wachmacher

Neben der Digitalisierung hat auch die Corona-Pandemie hat einen erheblichen Einfluss auf unsere Arbeitswelt. Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf die Gesundheit 4.0?

Definitiv einen fördernden Effekt. Gerade durch die soziale Reduktion erreicht man die Menschen nun auf digitalem Weg. Digitalisierung hat durch die Pandemie ein ganz anderes Selbstverständnis bekommen. In der Hinsicht wirkt die Pandemie wie ein Wachmacher, sie hat viele Dinge angestoßen, die vorher eher negiert oder bei einigen ganz einfach nicht auf der Prioritätenliste oben standen. Neben wir mal die Heimarbeit, für einige Unternehmen schon vor der Pandemie selbstverständlich, für andere ein absolutes No-Go. Jetzt ist es Pflicht – und es funktioniert. Ähnlich verhält es sich mit den digitalen Sprechstunden für Ärzte. Die Gesundheitsbranche hat sich weiterentwickelt. Stellt man die Technologieentwicklung in den Vordergrund, hatte die Pandemie etwas Positives.

Welche digitalen Technologien sind aktuell besonders hilfreich, um weiterhin die Gesundheit der Mitarbeiter*innen zu gewährleisten?

Alle Gesundheits-Apps, die solide und valide Informationen aufbereiten. Gerade Health-Apps wirken im privaten Bereich motivierend, um sich gesund und fit zu halten. Im BGM halte ich gerade die Kommunikations-Apps für wesentlich. Vor allem die Video-Übertragung ist entscheidend, um trotz der sozialen Distanzierung visuell mit den Menschen in Kontakt zu bleiben. Kommunikation zwischen Führungskräften und Mitarbeitern ist die Basis für eine gute und gesunde Arbeit. Wenn ich meinen Mitarbeitern zuhöre und sie sehe, weiß ich, wie es ihnen geht. Nur dann kann ich als Führungskraft reagieren. Gestik und Mimik spielen dabei eine große Rolle, das geht im Moment nur via Video. 

Viele Arbeitnehmer*innen sind aktuell im Home-Office. Wie kann die Arbeit auch im Home-Office gesundheitskonform stattfinden und was müssen Arbeitgeber*innen beachten?

Grundlegend für die Arbeit im Home-Office ist die digitale Kompetenz der Mitarbeiter*innen. Gerade Belegschaften, die digital nicht so affin sind, müssen geschult werden. Nur dann gelingt das Arbeiten im Home-Office. Arbeitgeber*innen sollten ihren Mitarbeiter*innen zudem eine gute IT-Ausstattung zur Verfügung stellen und Hinweise geben, wie man den Arbeitsplatz richtig einrichtet. Leitfäden bietet zum Beispiel die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege oder das Fraunhofer Institut.

Wichtig ist aber vor allem, Verständnis für schwierige Arbeitsbedingungen aufzubringen. Viele haben Kinder zu Hause oder kein eigenes Arbeitszimmer. Das ist eine enorm hohe Belastung. Hier hilft es, ergebnisorientiert zu arbeiten und individuelle Arbeitszeitmodelle einzuführen. Das schafft individuelle Flexibilität und Entlastung für die Mitarbeiterin bzw. für den Mitarbeiter. Individuelle Lösung lassen sich zudem meist im Dialog mit den Mitarbeiter*innen finden und erfordern in vielen Fällen nur ein wenig Kreativität.

Und deswegen ist es immer wichtig, mit den Mitarbeiter*innen zu reden und ihnen zuzuhören.

 

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Lange!

 

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