12.06.2024Interview

"Für kein Land ist Europa so wichtig wie für Deutschland."

Im Interview zur Europawahl beleuchtet Henning Vöpel, Direktor des Centrums für Europäische Politik, die wirtschaftspolitischen Konsequenzen des Wahlausgangs. Er analysiert, wie das Erstarken rechtskonservativer Kräfte die Machtverhältnisse in Brüssel verschiebt, welche Herausforderungen auf die EU-Institutionen zukommen und warum Deutschland und Frankreich an Einfluss verlieren können. Das Interview erfolgte im Namen des DMB-Kooperationspartners Wirtschaftspolitischer Club Deutschland e.V. (WPCD).
 

Die europäischen Bürgerinnen und Bürger haben ein neues EU-Parlament gewählt. Wie bewerten Sie die Europawahl insgesamt im Hinblick auf die Wirtschaftspolitik in Europa und Deutschland? Gibt es beim Wahlergebnis Aspekte, die Sie überrascht haben? 

Es war eine denkwürdige, teils dramatische Europawahl. Auch wenn vieles von dem, was eingetreten ist, im Vorfeld so erwartet worden war, insbesondere das Erstarken rechtskonservativer und rechtsextremer Parteien quer durch Europa, hat das Wahlergebnis doch zu überraschenden Reaktionen und Dynamiken noch am Wahlabend geführt. Die drastischen Verluste der Ampel in Deutschland oder die herbe Niederlage für den „Europäer“ Macron in Frankreich haben in der Deutlichkeit überrascht, zum Teil sogar Regierungskrisen ausgelöst. Die Folgen für die Wirtschaftspolitik sind ambivalent: Der Hoffnung auf mehr Pragmatismus steht die Sorge um eine Renationalisierung der Wirtschaftspolitik gegenüber.      

 

Die EU-Wahl ist durch ein Erstarken rechtspopulistischer Parteien gekennzeichnet. Wie bewerten Sie die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament in Hinblick auf Deutschlands Interessen in der EU?   

Interessanterweise wirkt sich die Europawahl nicht nur auf das Europäische Parlament aus. Die womöglich wichtigeren Auswirkungen hat sie auf die nationalen Regierungen und den Europäischen Rat. In vielen nationalen Regierungen werden nationale Interessen wieder eine größere Rolle spielen, die weltweit schon länger zu beobachtende Renationalisierung der Politik würde damit nun auch die EU erreichen. Auch im Rat kommt es zu Machtverschiebungen. Der Einfluss Deutschlands und Frankreichs geht zurück, der von Italien und Polen nimmt zu. Giorgia Meloni gehört heute zu den entscheidenden Figuren in Brüssel.

 

Die Vielzahl der politischen Fraktionen könnte zu schwierigen Mehrheitsverhältnissen führen. Sehen Sie die Gefahr einer erschwerten Handlungsfähigkeit der EU-Institutionen? Inwiefern könnte sich dies auf die Entscheidungsprozesse des EU-Parlaments auswirken, und in welchen Bereichen erwarten Sie die größten Herausforderungen?  

Die Handlungsfähigkeit dürfte nicht wesentlich eingeschränkt sein. Die allermeisten Parteien haben sich ja schon im Vorfeld zu relativ stabilen Fraktionen zusammengeschlossen. Da dürfte es nur noch wenig Bewegung geben. Eine völlige Neusortierung erwarte ich jedenfalls nicht. Die großen Fraktionen bleiben die christdemokratische EVP, die sozialdemokratische S&D, die liberale Renew und die Grünen. Die vielen kleinen werden dagegen kaum ins Gewicht fallen. Interessant dürften allerdings die in den kommenden Wochen die Verhandlungen zwischen den Fraktionen sein, denn die amtierende Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen muss sich einerseits im Rat um Meloni die Zustimmung holen, andererseits aber auch im Parlament, in dem sie zwischen einer geschwächten Mitte links von ihr und einer erstarkten EKR und ID am äußeren rechten Rand von ihr sitzt. Das wird kein ungefährlicher Spagat für von der Leyen.  

 

Die letzte EU-Kommission (2019 bis 2024) konnte stark auf eine Koalition aus der EVP, den Grünen, der S&D sowie den Liberalen/Renew vertrauen. Sehen Sie eine Fortführung dieses Bündnisses, oder wo verorten Sie politisch eine neue Koalition? 

Ja, es wird wohl dazu kommen. Zumindest hat von der Leyen Gespräche mit der S&D und Renew angekündigt und auch welche mit den Grünen in Aussicht gestellt. Vieles spricht auch inhaltlich für eine Fortsetzung, denn viele große Projekte wie der Green Deal sind ja noch gar nicht abgeschlossen. Trotzdem dürfte sich die Machtarithmetik im Vergleich zum letzten Bündnis deutlich verschoben haben. Friedrich Merz hatte ja bereits am Tag nach der Wahl geäußert, man werde sich von Wahlverlierern nichts diktieren lassen. Der Ton wird also – und ist es schon – ein anderer sein.

 

Inwiefern hat die neue politische Zusammensetzung des EU-Parlaments Auswirkungen auf die politische Agenda?  Welche wirtschaftspolitischen Themen könnten jetzt mehr Gewicht bekommen und welche möglicherweise an Bedeutung verlieren?  

Die EVP wird sicherlich hier und da deutliche Korrekturen am bisherigen Kurs vornehmen. Von zentraler Bedeutung sind sicherlich die Migrations- und die Klimapolitik sowie der gesamte Green Deal. Ich denke aber, dass man – bei Fortsetzung der alten „Koalition“ – im Wesentlichen an den großen politischen Projekten festhalten wird. Aber natürlich gilt, dass in der konkreten Ausgestaltung der Einfluss der EVP zunehmen wird. Das Thema Wettbewerbsfähigkeit wird zurecht stark an Bedeutung gewinnen, auch beim Bürokratieabbau steht man im Wort. Mario Draghi wird in einigen Wochen einen mit Spannung erwarteten Bericht dazu vorlegen, der so etwas wie eine Agenda für die nächsten fünf Jahre darstellen könnte. 

 

Welche Auswirkungen könnte die veränderte politische Landschaft im EU-Parlament auf mittelständische Unternehmen haben, beispielsweise in Bezug auf Regulierungen und den Marktzugang? Ist mit mehr oder weniger Bürokratie zu rechnen? 

Auf eine schlankere Regulierung und weniger Bürokratie wäre zu hoffen. Das ist derzeit enorm wichtig für die Unternehmen und die gesamte mittelständische Wirtschaft. Ich bin aber nicht sicher, dass es so kommt. Einen großen Wurf, den es eigentlich braucht, wird es beim Bürokratieabbau nicht geben. Die Beharrungskräfte in der Bürokratie sind systemisch zu groß. Was Marktzugang und Wettbewerb betrifft, könnte es sogar zu negativen Entwicklungen kommen. Wenn nationale Interessen in der EU wieder zunehmen sollten, wird es der deutsche Mittelstand in einem solchen Umfeld schwer haben. Umso wichtiger ist es, dass sich Deutschland endlich wieder stärker für Europa engagiert, für Wettbewerb und internationale Handelsabkommen eintritt. In den vergangenen Monaten wurde ja in Brüssel oft beklagt, dass Deutschland ein Ausfall gewesen wäre. Für kein Land ist Europa so wichtig wie für Deutschland und seine Wirtschaft.   

 

Wie bewerten Sie die Entscheidung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, als Reaktion auf den Wahlsieg der rechten Partei „Rassemblement National“ die französische Nationalversammlung aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen? 

Das ist sicherlich ein riskantes Manöver. Ich denke aber, dass seine Entscheidung wohl abgewogen war und bereits im Vorfeld als Szenario durchgespielt wurde. Das Kalkül ist womöglich, wie damals bei Pedro Sanchez in Spanien, dass es jetzt, unter dem Eindruck des Wahlergebnisses stehend, am einfachsten ist, die Menschen für ihn und gegen Le Pen zu mobilisieren. Er setzt alles auf diese eine Karte. Wenn also Neuwahlen, dann jetzt, und noch vor den Olympischen Spielen. Ich halte es aber auch für denkbar, dass Macron einfach keine hinreichende Legitimation mehr gesehen hat und aus demokratischer Demut und präsidialer Verantwortung heraus diesen Schritt gegangen ist. Trotzdem ist es ein Risiko: Italien und Frankreich in deutlich rechten Händen, Deutschlands Regierung stark geschwächt – kein gutes Szenario für die EU inmitten eines geopolitischen Sturms, in dem die EU einen starken Zusammenhalt braucht.

 

 

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