21.03.2022Fachbeitrag

"Hilfe, wir wachsen" - wie KMU Wachstumsschwellen meistern

In der neuen DMB-Beitragsserie werden Herausforderungen von Unternehmen adressiert, die gesund wachsen wollen.

Anhand eines Beispiels aus der Praxis erklärt Susanne Grätsch (berliner team Gbr) wie Unternehmen Wachstumsschwellen erkennen und die damit einhergehenden Herausforderungen handhaben können. Der Name des Unternehmens wurde im Fachbeitrag geändert.

 

Die Holger Lutzmann GmbH, eine kleine Projektgesellschaft im Süden der Republik, hat im letzten Jahr einen großen Deal abgeschlossen. Nicht nur, dass es gelungen ist, den größten Auftrag der Firmengeschichte an Land zu ziehen, das Unternehmen konnte sich in diesem Zusammenhang auch mit einer innovativen Software am Markt platzieren, die weiteres Wachstum verspricht. Allein im letzten halben Jahr wurden 17 Personen eingestellt, damit ist die Firma um ein Drittel gewachsen. Eigentlich prima, doch Holger Lutzmann merkt, dass das Wachstum einige Herausforderungen mit sich bringt. Die Zahlen weisen darauf hin, dass die Firma weniger produktiv ist, die Stimmung ist in vielen Teams gedrückt und in letzter Zeit haben sich auch einige Kunden bei ihm beschwert.

Was Holger Lutzmann erlebt, sind Wachstumsschmerzen. Wenn ein Unternehmen größer wird, gibt es typische Wachstumsschwellen, die es rechtzeitig zu erkennen gilt, um die entscheidenden Themen proaktiv anzugehen.

 

Zu Beginn: Klein und familiär

Die meisten Unternehmen starten mit einigen wenigen Personen und bauen ihr Geschäft von dort aus auf. Der oder die Gründer geben die Richtung vor, das Team drumherum arbeitet oft freundschaftlich und auf Augenhöhe miteinander. Jeder weiß, was zu tun ist, es gibt kaum klare Zuständigkeiten, jeder hat alles im Blick. Absprachen funktionieren schnell, oft über den Schreibtisch hinweg. Die Organisation ist in der Lage, sich sehr flexibel und mit wenig Aufwand auf Veränderungen einzustellen.

Holger Lutzmann erinnert sich, dass er schon einmal eine so kritische Situation mit seinem Unternehmen erlebt hat. Als sie vor zwei Jahren auf über 10 Personen angewachsen waren, verschlechterten sich ebenfalls die Kennzahlen und es gab unzufriedene Kundenrückmeldungen. Vieles lief damals chaotisch ab. Die Kommunikation nahm zu viel Raum ein, gleichzeitig gingen wichtige Informationen verloren. Strategische Arbeit blieb völlig auf der Strecke, weil er so viel damit zu tun hatte, die operativen Themen zu bewältigen.

 

Wachstumsschritt Führung und Arbeitsteilung

Wenn ein Unternehmen eine Größe erreicht, in der man nicht mehr alles auf Zuruf koordinieren und absprechen kann und auch die Führungsspanne für den oder die UnternehmerInnen zu groß wird, braucht es gezielte Prozesse, Kommunikations- und Führungsstrukturen. Aufgaben sollten sinnvoll verteilt, Zuständigkeiten und Kompetenzen effizient zugeordnet werden. Das muss kein hierarchisches Modell sein, auch agile Strukturen können in dieser Phase sinnvoll sein.

Damals hatte Holger Lutzmann noch eine Weile versucht, als Unternehmer an der Spitze alles im Griff zu behalten. Doch er musste einsehen, dass seine zeitlichen Ressourcen begrenzt waren und er die Führung auf mehrere Schultern verteilen musste. Es brauchte klare Kommunikationswege und Strukturen. Sie hatten damals im Unternehmen die ersten Teams gebildet und Teamleiter eingesetzt. Das ging eine Weile gut und das Unternehmen wuchs weiter.

Doch diesmal kommen andere Herausforderungen auf: Die eine Abteilung weiß nicht mehr, was die andere macht. Die Kunden sehen sich mit unterschiedlichen Ansprechpartnern konfrontiert und fühlen sich manchmal allein gelassen. Auch wird beklagt, dass die eine Abteilung andere Leistungen und Vorgehensweisen gegenüber den Kunden anbietet als die andere.

 

Wachstumsschritt Prozesse und Standardisierung

In jedem Unternehmen, auch im flexibelsten, braucht es einheitliche Vorgehensweisen, Regeln und Standards. Heute wird man damit vielleicht vorsichtiger sein als früher, denn wir wollen kein bürokratisches Unternehmen schaffen, das starr und unbeweglich wird. In den heutigen Zeiten ist es vielmehr entscheidend, flexibel zu bleiben und sich an Gegebenheiten und Anforderungen der Umwelt, des Marktes und der Kunden anzupassen. Denn die meisten Menschen spüren: die Digitalisierung hat unsere Welt verändert. Sie ist „VUCA“ geworden. VUCA steht als Akronym für Volatility (Volatilität), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit). Dies beschreibt sehr gut unsere heutige Welt der schnellen Veränderungen und Unplanbarkeit.

Und doch braucht es Prozesse, Standards und Vorgehensweisen, auf die sich das Unternehmen für eine gewisse Zeit festlegt, und zwar so lange, bis man feststellt, dass das Vorgehen nicht mehr auf die Realität passt und man ein neues Vorgehen vereinbart. Dies reduziert die Notwendigkeit der Absprachen und sichert auch dem Kunden  gegenüber ein einheitliches, verlässliches Vorgehen.

Holger Lutzmann holt seine Führungsmannschaft zusammen. Sie beschließen, dieses Thema anzugehen. Es ist nicht leicht und wird viel Arbeit kosten, doch sie merken, dass sie so nicht weiter machen können. Im ersten Schritt werden die wichtigsten Prozesse und Themen definiert und Arbeitsgruppen gebildet, um diese miteinander festzulegen und zu vereinheitlichen. Wichtig ist Holger, dass alle Beteiligten eine Stimme bei der Festlegung dieser Prozesse haben. Denn die Prozesse sollen für alle passen.

Schritt für Schritt werden Entscheidungen getroffen und Standards eingeführt. Bei vielen Mitarbeitenden gibt es Erleichterung, dass Themen endlich geklärt und vereinheitlicht werden. Aber auch Widerstand ist zu spüren, wenn jemand liebgewonnene Gewohnheiten aufgeben muss.

Am Wochenende erzählt Holger einem Freund von diesem Prozess. Dieser ist Bereichsleiter in einem größeren Unternehmen mit rund 400 Mitarbeitern „Wir haben diese Phase bereits hinter uns.“ erzählt dieser. „Uns treiben jetzt ganz andere Themen um.“

Der Freund erzählt, dass die eingeführten Standards eine Zeit lang gut geholfen haben, dass mit zunehmendem Wachstum aber wieder Probleme aufgetaucht sind: Themen fingen irgendwann an, sich immer länger hinzuziehen, weil die Führung überlastet war und Entscheidungen liegen blieben. Auch die Unternehmenskultur veränderte sich. Früher hatten sich die Menschen mit dem Unternehmen identifiziert. Es wurde nach Feierabend oft noch gefeiert. Mit dem Wachstum schien an vielen Stellen eine „Söldnermentalität“ vorzuherrschen. Geld für Arbeit, aber keine Minute länger als im Arbeitsvertrag vereinbart. An den Schnittstellen herrschte ein „Wir“ und ein „Die“. Wo war das Wir-Gefühl geblieben?

Was Holgers Freund erlebte, ist ganz typisch für die nächste Wachstumsschwelle: Die in bestimmten Wachstumsphasen notwendige Bürokratisierung und Standardisierung kann ab einer gewissen Größe dazu führen, dass Unternehmen in Zeiten schnellen Wandels an ihre Grenzen kommen. Mit standardisierten Strukturen und Prozessen reagieren Organisationen oft langsam auf sich verändernde Gegebenheiten.

Und durch die Größe wird das Unternehmen anonymer. Neue Mitarbeitende kommen vielleicht noch im eigenen Team an, entwickeln jedoch nicht so leicht eine Identifikation mit dem Gesamtunternehmen. Es gibt selten ein gemeinsames Werteverständnis. Führung ist oft ein Flaschenhals und Entscheidungen brauchen lange. Abteilungen sind nach Aufgaben geschnitten, es fehlt ein End-to-End-Prozess. Dies führt dazu, dass die Verantwortung für die Kundenwünsche oftmals auf der Strecke verloren geht.

 

Wachstumsschritt Dezentralisierung und Kulturarbeit

Was es für Unternehmen wie das von Holgers Freund braucht, sind dezentrale Strukturen, in denen multifunktionale Teams am Kunden ausgerichtet dezentral agieren. Damit wird schnell auf Kundenwünsche und Veränderungen im Markt reagiert. Die MitarbeiterInnen kennen ihren Handlungsspielraum und treffen Entscheidungen weitestgehend autonom, schnell und flexibel. Silos sind kein Thema mehr.

Damit das Unternehmen trotzdem abgestimmt in eine Richtung agiert und Menschen sich als Teil eines großen Ganzen empfinden, braucht es Sinn und Orientierung: eine starke Vision, Unternehmenswerte und Leitlinien. Dazu einen starken abteilungs- und bereichsübergreifenden Dialog, der gezielt gefördert werden sollte, um ein unternehmensweites WIR-Gefühl zu stärken.

Holger nimmt sich vor, im weiteren Wachstumsprozess frühzeitig auf Unternehmenskultur und Dezentralisierung zu achten.

 

Die Veränderung begleiten

Bei der Überwindung jeder Wachstumsschwelle gibt es ein paar grundlegende Prinzipien, die Unternehmen im Veränderungsprozess beachten sollten:

  • Erarbeiten Sie alle Lösungen mit den betroffenen Mitarbeitenden zusammen. Wir beim berliner team nennen das Welutions (statt Solutions). Sie haben damit alle Sichtweisen an Board und sparen sich in der Umsetzung viele Diskussionen
  • Kommunizieren Sie im Veränderungsprozess regelmäßig und transparent, um Menschen Sicherheit zu geben und Gerüchten vorzubeugen.
  • Rechnen Sie mit Widerstand und akzeptieren Sie ihn als normalen Teil des Veränderungsprozesses. Geben Sie Menschen Raum, ihre Bedenken zu äußern und nehmen Sie diese ernst, ohne notwendige Veränderungen deshalb zu unterlassen.
  • Leben Sie eine konstruktive Fehlerkultur, die offenes Feedback zulässt und es ermöglicht, Dinge auch einfach mal auszuprobieren und – wenn notwendig – auch nochmal anzupassen.

 

Holger hat neulich ein Zitat gelesen, von dem er vergessen hat, wer es geschrieben hat. Doch es hat ihn sehr beeindruckt:

There are three types of people:
Those who make things happen,
Those who watch things happen
and those who wonder what happened.

Und er nimmt sich vor, auch in Zukunft zu denen zu gehören, die die Themen angehen und Gedanken Wirklichkeit werden lassen.

 

Dieser Artikel ist Teil von Mittelstand Wissen zum Thema 'Wachstumsbeschleuniger und -bremsen | Worauf KMU achten sollten'

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