18.01.2016Fachbeitrag

Rechtskommentar:
Belgien: Die Strafrechtliche Haftung der juristischen Person in Belgien

Rechtskommentar:

1. DAS PRINZIP

Das Prinzip der allgemeinen strafrechtlichen Haftung einer juristischen Person wurde in Belgien durch das Gesetz vom 4. Mai 1999 in das belgische Strafgesetzbuch (STGB) aufgenommen.

Artikel 5 des STGB lautet: "Jede juristische Person ist strafrechtlich verantwortlich für die Straftaten, die wesensmäßig verbunden sind mit der Verwirklichung ihres Zwecks oder der Wahrnehmung ihrer Interessen, oder für diejenigen, aus deren konkreten Umständen hervorgeht, dass sie für ihre Rechnung begangen worden sind.

Wird eine juristische Person ausschließlich aufgrund des Auftretens einer identifizierten natürlichen Person verantwortlich gemacht, kann nur die Person, die den schwersten Fehler begangen hat, verurteilt werden. Hat die identifizierte natürliche Person den Fehler wissentlich und willentlich begangen, kann sie zusammen mit der verantwortlichen juristischen Person verurteilt werden."

Da das Gesetzbuch die strafrechtliche Haftung von "jeder juristischen Person" vorsieht, ist diese ebenfalls auf ausländische juristische Personen (Vereinigungen und zivilrechtliche Gesellschaften inbegriffen) anwendbar.

2. ZURECHENBARKEIT

Unter belgischem Recht wird die Straftat prinzipiell der Person zugerechnet, die die materielle Tat begangen hat.

Eine strikte Anwendung dieser Regel juristischen Personen gegenüber, ist nicht möglich, da die Straftat immer eine Tat oder ein Versäumnis einer natürlichen Person betrifft, so dass Artikel 5 STGB drei Hypothesen vorsieht, unter denen eine juristische Person haftet:

  • Der Verstoß ist mit der Verwirklichung des Zwecks der juristische Person wesensmäßig verbunden, oder,
  • Der Verstoß ist mit der Wahrnehmung der Interessen der juristische Person verbunden, oder,
  • Wenn aus den konkreten Umständen hervorgeht, dass der Verstoß für die Rechnung der juristische Person begangen worden ist.

Die inhaltliche Ausfüllung dieser Hypothesen wird den Strafgerichten (dem Grunde nach) überlassen, so dass diese sich über die materielle Zurechenbarkeit der Straftat der juristischen Person gegenüber, aussprechen müssen.

Der juristischen Person muss ein Fehlverhalten vorgeworfen werden können, und die strafrechtliche Haftung wird nur dann festgehalten, wenn seitens der juristischen Person Vorsatz und/oder Fahrlässigkeit vorliegt.

Da das belgische Strafrecht Schuldstrafrecht ist, muss ein Straftatvorsatz der juristischen Person, und nicht (nur) der natürlichen Person, nachgewiesen werden.

Juristische Personen sind dementsprechend nicht für Straftaten der Mitarbeiter haftbar, die die juristische Person aus persönlichen Interessen missbraucht haben.

Dies erklärt ferner, warum eine juristische Person auch im Falle der Nicht-Identifizierung der natürlichen Person strafrechtlich haftbar gemacht werden kann.

3. IDENTIFIZIERUNG DER NATÜRLICHEN PERSON

Wie bereits oben erwähnt, resultiert die Haftung der juristischen Person aus einer Handlung einer natürlichen Person (vom Anteilsinhaber über die Geschäftsführung bis zum Arbeitnehmer), ohne dass die natürliche Person hierbei identifiziert werden muss, insofern die Handlung (Straftat) und der Vorsatz der juristischen Person zuzurechnen ist.

Ist neben der juristischen Person auch die natürliche Person identifizierbar, sieht Artikel 6 STGB ein System von kumulierter/ausschließender Haftung vor:

"Wird eine juristische Person ausschließlich aufgrund des Auftretens einer identifizierten natürlichen Person verantwortlich gemacht, kann nur die Person, die den schwersten Fehler begangen hat, verurteilt werden. Hat die identifizierte natürliche Person den Fehler wissentlich und willentlich begangen, kann sie zusammen mit der verantwortlichen juristischen Person verurteilt werden".

4. AUSSCHLIESSENDE HAFTUNG: DER SCHWERSTE FEHLER

In allen Fällen wo sowohl die natürliche Person als auch die juristische Person verfolgt werden, wird das Systems der alternativen Haftung angewendet.

Gemäß diesem Prinzip kann nur die Person, die den schwersten Fehler begangen hat, verurteilt werden, wobei diese Beurteilung dem Richter souverän überlassen wird.

Beide Personen können also verfolgt werden, so dass der Richter dem Grunde nach, den Mechanismus der ausschließenden Haftung anwenden kann, da erst in diesem Stadium des Strafverfahrens über die Schuldfrage ("den schwersten Fehler") geurteilt wird.

Der Gesetzgeber wollte hiermit eine automatische gemeinsame Verurteilung der juristischen und natürlichen Person vermeiden, wobei dies nicht verhindert, das gegen beide Personen gemäß den Prinzipen des Zivilrechtes einen Schadensersatzanspruch geltend gemacht wird.

5. KUMULIERTE HAFTUNG

Nur wenn die Straftat wissentlich und willentlich durch eine identifizierte natürliche Person begangen wurde, kann die strafrechtliche Haftung der juristischen Person mit der natürlichen Person kumuliert werden.

Dies betrifft alle Straftaten, und nicht einzig die Straftaten bei denen ein Vorsatz bewiesen werden muss. Auch Straftaten aus dem Wirtschaft-, Arbeitsrecht, Steuer- und Umweltrecht unterliegen dem Anwendungsbereich.

Auch hier hat der Gesetzgeber keine Kriterien bestimmt, und scheint man merkwürdigerweise den Strafgerichten die Wahl gegeben zu haben auch die natürliche Person zu verurteilen:

" (…) Hat die identifizierte natürliche Person den Fehler wissentlich und willentlich begangen, kann sie zusammen mit der verantwortlichen juristischen Person verurteilt werden".

Falls die Straftat nicht wissentlich und willentlich begangen wurde, ist die Verurteilung der natürlichen Person noch immer möglich, falls vom Strafgericht gemäß dem Prinzip derausschließenden Haftung festgestellt wird, dass die natürliche Person den "schwersten Fehler" begangen hat.

6. AD HOC VERTRETER DER JURISTISCHEN PERSON

In Folge des eventuellen Interessenkonfliktes bei der Verfolgung einer Person die sowohl individuell haftet, als auch für die juristische Person vertretungsbefugt ist, wobei beide (Individuum und Gesellschaft) an der Haftung desjenigen interessiert sind, der den "schwersten Fehler" begangen hat, bestimmt Art. 2bis des Strafprozessgesetzbuches:

"Wenn die Verfolgung einer juristischen Person und der Person, die befugt ist, die juristische Person zu vertreten, wegen derselben oder wegen zusammenhängender Taten eingeleitet wird, bestimmt das Gericht, das dafür zuständig ist, über die Strafverfolgung gegen die juristische Person zu erkennen, von Amts wegen oder auf Antragschrift, einen Ad-hoc-Bevollmächtigten, um diese juristische Person zu vertreten."

7. STRAFEN

Art. 7bis des STGB bestimmt: "Auf Straftaten, die von juristischen Personen begangenen werden, sind folgende Strafen anwendbar:

In Kriminal-, Korrektional- und Polizeisachen:
1. Geldbuße,
2. Sondereinziehung; die in Artikel 42 Nr. 1 vorgesehene Sondereinziehung, die juristischen Personen des öffentlichen Rechts gegenüber ausgesprochen wird, kann sich nur auf zivilrechtlich pfändbare Güter beziehen.

In Kriminal- und Korrektionalsachen:
1. Auflösung; sie kann nicht gegenüber juristischen Personen des öffentlichen Rechts ausgesprochen werden,
2. Verbot, eine Tätigkeit auszuüben, die zum Zweck der juristischen Person gehört, mit Ausnahme der Tätigkeiten, die öffentliche Dienstleistungsaufgaben sind,
3. Schließung einer oder mehrerer Niederlassungen, mit Ausnahme der Niederlassungen, in denen Tätigkeiten ausgeübt werden, die öffentliche Dienstleistungsaufgaben sind,
4. Veröffentlichung und Verbreitung der Entscheidung."

8. BEISPIELE

Folgende Beispiele geben eine Vorstellung der komplizierten Umsetzung.

VERKEHRSRECHT:
STRAFBARE HANDLUNG: Abwesenheit der Bescheinigung der technischen Kontrolle und Überladung des Fahrzeuges.

VERFAHREN
Erste Instanz: Alle verfolgten Parteien wurden zur Zahlung einer Geldbuße verurteilt.

Zweite Instanz: Ausschließliche Verurteilung der Gesellschaft wegen des schwersten Fehlers, Handlung wurde für ihre Rechnung begangen (materielle Zurechenbarkeit) + Ladung und Regulierung des Fahrzeuges sind eine strukturelle Verantwortlichkeit der Gesellschaft (moralische Zurechenbarkeit).

STEUERRECHT:
STRAFBARE HANDLUNG: Geldwäsche

SACHVERHALT:
Meldung durch die Bank bei der Finanzpolizei/Staatsanwaltschaft, nachdem erhebliche Beträge einer Gesellschaft mit Sitz auf von der Isle of Man auf ihre belgischen Bankkonten überwiesen wurden. Unverzügliche Pfändung der belgischen Konten und Verfolgung der Gesellschaft, des Eigentümers ("Beneficial owner") und seiner Ehefrau. Der Ursprung des Geldes ist nicht nachvollziehbar. Das Vermögen ist das Ergebnis einer langjährigen geschäftlichen Tätigkeit des Eigentümers, u.a. in den niederländischen Antillen.

VERFAHREN:
Erste Instanz: Verurteilung aller verfolgten Personen.
Zweite Instanz: strafrechtlicher Vergleich nach Austausch der Schriftsätze mit der Staatsanwaltschaft und vor Verhandlung. (s. Internationaler Rechtskommentar: Belgien: Der "strafrechtliche Vergleich" wird ausgedehnt.)

BETRIEBSUNFALL:
STRAFBARE HANDLUNG: Betriebsbrand

SACHVERHALT:
Betriebsbrand mit Todesfolge (2 Opfer). Die Staatsanwaltschaft verfolgt mehrere Arbeitnehmer, den Geschäftsführer und die Gesellschaft.

VERFAHREN:
Erste Instanz: Verurteilung der Arbeitnehmer, die zum Zeitpunkt des Unfalls die Aufsicht hatten, sowie der Gesellschaft.

Zweite Instanz: Freispruch aller natürlichen Personen, ausschließliche Verurteilung der Gesellschaft zu einer hohen Geldstrafe. Der schwerste Fehler ist zu Lasten der Gesellschaft.

GESELLSCHAFTSRECHT
STRAFBARE HANDLUNG: Urkundenfälschung und Steuerhinterziehung

SACHVERHALT:
Die Staatsanwaltschaft beschlagnahmt die Originalbuchhaltung und pfändet alle Bankkonten einer belgischen Diamanten-Import-Export-Gesellschaft unter dem Vorwurf, dass die Ankaufrechnungen der Diamanten absichtlich höher aufgestellt und in die Buchhaltung eingetragen worden wären, um die Gewinne und damit die Gesellschaftsteuer fälschlich zu reduzieren. Konkurs der Gesellschaft. Verfolgung der Gesellschaft und der Mitglieder des Vorstandes. Ein Mitglied des Vorstandes ist auch Geschäftsführer in einem in London quotierten Unternehmen und wird im Falle einer Verurteilung, diese Funktion kündigen müssen. Antrag auf Freispruch aller Parteien, hilfsweise, Haftung der Gesellschaft und Freispruch der Geschäftsführer.

VERFAHREN:
Erste Instanz: Freispruch aller Parteien wegen Zweifel am Bestehen einer strafrechtlichen Absicht zu Lasten der Vorstandsmitglieder sowie der Geschäftsführer.

Zweite Instanz: Bestätigung des Urteils.

Autoren:
Oliver Weinand | Advocaat
Nikolaas Lambers | Advocaat

IUSTICA.BE, Brüssel/Belgien
www.iustica.be



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