04.10.2021Interview

„Jeder Arbeitgeber sollte die Büropflicht in Frage stellen.“

Bei Lulububu Software gehört es zum Konzept, dass es kein Büro gibt und alle Beschäftigten an unterschiedlichen Orten arbeiten.

Aus der Erfahrung des Scheiterns heraus hat DMB-Mitglied Thomas Kekeisen mit seinem Unternehmen bewusst einige Stilbrüche begangen. Dazu gehört, dass er seinen Mitarbeiter Jörn Dyherrn ausschließlich online ausbildete. Für den Erfolg einer solchen innovativen Methode müssen Unternehmen und Auszubildende gewisse Voraussetzungen mitbringen. In welchen Branchen dieses außergewöhnliche Vorgehen künftig in Frage kommt, verraten Thomas Kekeisen und Jörn Dyherrn im Interview mit dem DMB.


DMB: Herr Kekeisen, bitte stellen Sie sich und Ihr Unternehmen kurz vor.

Thomas Kekeisen: Als Lulububu Software GmbH haben wir drei Hauptstandbeine. Wir erstellen klassische Webseiten, Smartphone-Apps und Webapps. Webseiten erarbeiten wir für unterschiedliche Kunden, vom Bäcker von nebenan bis hin zu Firmen wie Bosch. Smartphone-Apps entwickeln wir für das iPhone und Android-Geräte. Webapps werden bei uns gerade stark nachgefragt. Dies sind Anwendungen, die einfach im Browser ablaufen können, wie zum Beispiel eine Zeiterfassung oder ein Konfigurator für ein bestimmtes Produkt. Wir haben auch zwei eigene Erweiterungen für Google Chrome geschrieben, die uns unseren eigenen Arbeitsalltag erleichtern. Wir haben gerade erst einen weiteren Mitarbeiter eingestellt, sodass wir mit mir als Entwickler nun insgesamt sechs Personen im Unternehmen sind.

Gegründet habe ich die Lulububu Software GmbH im August 2017 in Weingarten (Baden-Württemberg). Dies war bereits meine zweite Firma. Zuvor hatte ich ein etwas größeres Unternehmen mit demselben Angebot. Meine erste Firma ging leider nach sechs Jahren insolvent, weil wir einfach zu schnell zu groß wurden. Aus dieser Erfahrung und mit all den gemachten Fehlern im Bewusstsein, habe ich dann neu gegründet und bei Lulububu ganz bewusst viele Stilbrüche begangen. Zum Beispiel haben wir keine Büroräume und arbeiten vollständig remote (nicht in unmittelbarer Nähe befindlich, aber miteinander verbunden – Anmerkung der Redaktion). Ich wollte die früheren Fehler vermeiden. Damals hatten wir alle einen Firmenwagen und andere Dinge. Daher wollte ich jetzt erstmal auf Sicherheit fahren und habe zunächst eher aus Spaß gesagt, wir brauchen kein Büro. Daraus hat sich dann aber ein Konzept entwickelt und jetzt bin ich echt froh, dass wir das so gemacht haben.


Sie haben Ihren Mitarbeiter Jörn Dyherrn ausschließlich online ausgebildet. Wie kam es zu dieser Idee und wie haben Sie beide sich kennengelernt?

Thomas Kekeisen: Nachdem ein Kollege vor zwei Jahren gekündigt hatte, habe ich händeringend nach Leuten gesucht, die zu uns passen und unsere Anforderungen erfüllen. Da habe ich wenig gefunden, bis auf Jörn, der sich bei uns gemeldet hat. Er hat uns sogar angeboten, seine laufende Ausbildung abzubrechen, um bei uns arbeiten zu können. Ich fand das zwar echt nett, habe ihm aber gesagt, dass ich es cool fände, wenn er am Ende auch eine Ausbildung auf dem Papier hat. Da ich aber vor Jahren einen Ausbilder-Schein gemacht habe, kam mir die Idee, ihn online auszubilden und die Industrie- und Handelskammer (IHK) zu fragen, ob sie zu so einem Projekt bereit wäre.

Jörn Dyherrn: Ich befand mich bereits ein Jahr in einer Ausbildung, die eine Stunde entfernt von meinem Wohnort Halle an der Saale (Sachsen-Anhalt) stattfand. Da bin ich hin gependelt und war täglich insgesamt ca. zwei Stunden unterwegs. Allgemein war ich mit der Ausbildung dort vor Ort nicht so zufrieden, weil ich mich ein bisschen unterfordert gefühlt habe. Da ich auch in meiner Freizeit programmiere, schaue ich immer mal wieder in verschiedene Facebook-Gruppen nach Aufträgen. Dort bin ich auf das Jobangebot gestoßen und habe sinngemäß gelesen, dass es auch einmal im Jahr eine gemeinsame Teamreise auf die Kanaren gibt und Arbeitsmittel gestellt werden, wie zum Beispiel ein MacBook. Das Stellenangebot hat mich angesprochen und daher habe ich mich darauf beworben.


Welche Hürden mussten Sie vor Ausbildungsbeginn überwinden?

Thomas Kekeisen: Wir mussten die IHK fragen, ob wir überhaupt ausschließlich online ausbilden dürfen. Der Ausbildungsrahmenplan schreibt vor, dass der Auszubildende vor Ort, also im selben Gebäude sein muss. Wir durften das deshalb nicht einfach machen. Die IHK Weingarten ist bei mir Zuhause zufällig direkt um die Ecke, da bin ich dann mit meinem MacBook in der Tasche hin geradelt. Als ich dem zuständigen Koordinator unser Konzept vorgestellt habe, war er zunächst skeptisch. Er bat mich darum, ihm zu zeigen, wie wir arbeiten. Damit hatte ich vorher schon gerechnet und war vorbereitet. Ich habe einfach eine Taste auf meinem Rechner gedrückt und war sofort mit meinen Mitarbeitern verbunden. Der Koordinator war verblüfft, dass wir so einfach miteinander sprechen und remote online sein konnten. Von dem Moment an war auch er von der Idee begeistert und stand auf unserer Seite. Er konnte schließlich auch seinen Chef von unserer Idee überzeugen und so konnten wir starten.


Herr Dyherrn, wie unterschied sich Ihr Arbeitstag während der Online-Ausbildung gegenüber der Ausbildung in Präsenz?

Jörn Dyherrn: Ich konnte mir mit meinen Kollegen natürlich keinen Kaffee holen und auch nicht gemeinsam mit ihnen Essen gehen. Aber ansonsten lief der Arbeitstag eigentlich genauso ab. Der Tag begann früh und über mein Board gingen im Laufe des Tages verschiedene Aufgaben ein. Dieses Aufgaben-Board ist eine vorpriorisierte Liste mit Aufgaben, die wiederum einzelnen Projekten zugeordnet sind. Die habe ich dann nacheinander abgearbeitet und konnte selbst entscheiden, wann ich Mittagspause mache. Ich war und bin auch jetzt sehr flexibel in meiner Arbeitszeit.

Thomas Kekeisen: Unser gesamter Arbeitsablauf von Kundenprojekt bis Lohnzahlung basiert auf sogenannten "Tickets" die letztlich in unserem Übersichts-Board auftauchen und abgearbeitet werden. So erstellen wir als Team im Schnitt pro Tag etwa 19 neue Tickets und lösen 22 vorhandene. In den letzten vier Jahren haben wir so über 20.000 Tickets angesammelt.


Gab es regelmäßige interne Termine, damit Sie auch Ihre Kollegen besser kennenlernen konnten?

Thomas Kekeisen: Wir treffen uns jeden Montag um 10 Uhr per Video und Online-Chat zum Jour Fixe. Das heißt bei uns Wochentalk. Dort sprechen wir darüber, was in der Woche ansteht. Ansonsten sind wir die gesamte Arbeitszeit über Audio-Online miteinander verknüpft. Wir benötigen einen einzigen Tastendruck und schon können wir miteinander sprechen, als würden wir nebeneinandersitzen. Wenn es dann mal ein bisschen aufwendiger wird und jemand den Bildschirm teilen muss, gehen wir wieder mit der Kamera online und halten ein kleines Meeting ab. Aber ansonsten sind wir nur im Audio online.

Wenn nicht gerade Situationen wie die Corona-Pandemie herrschen, versuchen wir uns außerdem einmal im Quartal irgendwo in Deutschland für ein Team-Event zu treffen. Entweder gehen wir Essen, fahren Kart oder machen irgendetwas anderes, um gemeinsam Spaß zu haben. Wegen Corona haben wir das nach langem Warten erst vor ein paar Wochen wieder gemacht. Jörn und ich haben uns da nach über einem Jahr das erste Mal persönlich wiedergesehen.


Befinden sich Ihre weiteren Mitarbeiter ähnlich weit weg wie Jörn Dyherrn oder wohnen sie bei Ihnen in der Nähe?

Thomas Kekeisen: Alle Mitarbeiter wohnen näher als Jörn, was aber eher Zufall ist. Die Meisten wohnen eine oder drei Stunden weg, aber doch eher im Süden Deutschlands. Obwohl sie näher wohnen, heißt das aber nicht, dass wir uns deswegen öfter sehen.


Welche Voraussetzungen sollte ein Unternehmen erfüllen, das Ihrem Beispiel folgen und eine Online-Ausbildung durchführen möchte?

Thomas Kekeisen: Für mich als Arbeitgeber ist sehr wichtig, dass der Prozess funktioniert und es einen Rahmen gibt, in dem man arbeiten kann. Es muss klar sein, wie die Dinge ablaufen. Darüber hinaus ist Vertrauen sehr wichtig. Eine solche Ausbildung beruht schließlich zu 100 Prozent auf Vertrauen. Hat der Auszubildende das Ziel, nicht zu arbeiten und das zu vertuschen, funktioniert es auf Dauer nicht. Ab dem ersten Tag muss Vertrauen da sein und auch gehalten werden. Ausbilder und Auszubildender müssen dieses Konzept und diese remote-Arbeit beide wollen.

Jörn Dyherrn: Ich stimme zu, dass man viel Vertrauen braucht. Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Als Auszubildender fand ich super, dass es geklappt hat, auf Knopfdruck miteinander zu sprechen. Es war wichtig, dass ich nicht auf mich alleingestellt war und nicht nur per E-Mail Kontakt zu den anderen Mitarbeitern hatte.


Die IT-Branche hat eine natürliche Affinität für digitale Lösungen. Halten Sie eine Online-Ausbildung nach Ihrer Erfahrung auch in anderen Branchen für umsetzbar?

Thomas Kekeisen: Ja. Potenziell sehe ich die Möglichkeit in allen Branchen, die bereits digital arbeiten oder digital wertschöpfend sind. Gerade in kreativen Berufen wird bereits vollständig oder zum Teil remote gearbeitet. Da es in diesen Bereichen auch schon einen Kampf um die besten Fachkräfte gibt, müssen Arbeitgeber auch remote bieten, um mithalten zu können. Vorstellbar ist es auch in anderen Berufen, wo ein gewisser Teil der Beschäftigten gar nicht vor Ort sein muss und von Zuhause aus arbeiten kann. Mit Blick auf Fahrtzeit und die Freiheiten, seinen Tag zu gestalten, ist für Arbeitnehmer selbst ein Tag im Homeoffice ein riesiger Gewinn. Jeder Arbeitgeber sollte die Büropflicht in Frage stellen und für sich überlegen, ob die Anwesenheit generell oder in Vollzeit notwendig ist.


Hat sich während der Ausbildung etwas anders entwickelt, als Sie erwartet haben?

Thomas Kekeisen: Unerwartet war, dass es zwischen den IHK einigen Aufwand bei der Absprache gab. Jörn ging in Halle an der Saale zur Schule und war in Baden-Württemberg Azubi. Eine solche Konstellation ist bei den IHK nicht vorgesehen. Nur konnte Jörn schlecht jeden Tag von Halle nach Baden-Württemberg fahren, um zur Schule zu gehen. Da mussten die IHK dann lernen, sich so abzusprechen, dass das alles funktioniert. Am Ende kam zum Beispiel auch das Zeugnis zuerst von der falschen IHK. Das musste dann auch erst noch geregelt werden. Bei uns lief ansonsten alles größtenteils so, wie wir es erwartet hatten.


In den Medien wurde bereits über Ihre Erfahrungen berichtet. Welche Resonanz gab es in der Öffentlichkeit und in Ihrer Branche auf dieses Pilotprojekt?

Thomas Kekeisen: Die Resonanz bestand vor allem darin, dass Initiativbewerbungen bei uns eingegangen sind. In den Kommentaren zu bereits erschienenen Artikeln war das Meinungsbild gemischt. Manche fanden es seltsam, dass so etwas geht, andere fanden es toll.

Jörn Dyherrn: Meine Freunde gehen alle noch den üblichen Weg mit Studium. Sie fanden es aber extrem cool, dass so eine Möglichkeit besteht. Wie Thomas schon sagte, sind die Meinungen wirklich sehr verschieden, wenn man die Kommentare unter unseren besten Job-Postings liest. Da merkt man, dass viele noch nicht wirklich offen dafür sind und Aufklärungsbedarf besteht.


Was sollten sich Unternehmen überlegen, wenn sie eine Online-Ausbildung planen?

Jörn Dyherrn: Auch wenn es nicht zu viel Kontrolle geben sollte, ist es trotzdem wichtig, dass man einen Blick für den Auszubildenden hat und er immer genügend Input bekommt. Seine Fragen sollten alle beantwortet werden. Trotz Homeoffice darf er nicht in der Luft hängen.

Thomas Kekeisen: Unternehmen sollten sich überlegen, wie sie sicherstellen können, dass der Auszubildende auch wirklich Kontakt zu seinem Ausbilder hat und nicht einfach nur irgendwo herumhängt und die Zeit absitzt. Der Auszubildende darf niemals durch fehlende Aussagen oder Hilfe demotiviert werden. Das ist der Hauptpunkt. Es ist bei remote-Arbeit einfach so, dass man Hilfe braucht, wenn man nicht weiterkommt. Wenn der Azubi jeden Tag frustriert ist, wird das auf lange Sicht nicht funktionieren.

Die Motivation und der Austausch müssen stimmen. Wir sprechen einmal im Monat mit jedem einzelnen Mitarbeiter darüber, was in den vergangenen vier Wochen gut und was schlecht lief. Wenn es da Missstände gibt, ist es mein oberstes Ziel, diese sofort aufzulösen.


Welche Fähigkeiten sollten junge Menschen mitbringen, die eine Online-Ausbildung machen möchten?

Thomas Kekeisen: Auszubildende sollten für eine Online-Ausbildung schon eher Autodidakten sein. Sie müssen die Fähigkeit haben, selbst zu lernen und sich eigenständig in Themen einzuarbeiten. Denn in unserer Branche ist es generell so, dass es ein Problem gibt und man sich da durchboxen muss. Wir helfen uns zwar gegenseitig, aber lösen muss das Problem der Einzelne dann immer selbst. Das kann manchmal sehr anstrengend sein.

Generell sollten die Auszubildenden im Bereich Informatik auch in ihrer Freizeit eigene Projekte umsetzen, um so Erfahrung zu sammeln und tiefer in das Thema einzutauchen. Nur schulisch kann man eher kein Software-Entwickler auf einem hohen Niveau werden. Da muss man selbst noch zusätzlich etwas für tun.

 

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Kekeisen und Herr Dyherrn!

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