„Das Parlament kann mehr Start-up-Mentalität vertragen“
Frischer Wind weht durch das politische Berlin. Fast 40 Prozent der aktuellen Bundesabgeordneten sind neu im Parlament. Doch wer von den „Neuen“ kennt den Mittelstand aus erster Hand und kann Praxiserfahrungen in die parlamentarische Arbeit einbringen?
Verena Hubertz (34, SPD) hat bereits eine steile Karriere als Unternehmerin und einen rasanten Start im Politikerleben vorzuweisen. 2013 gründete sie zusammen mit einer Studienfreundin ein Unternehmen, das die die App ‚Kitchen Stories‘ entwickelte. Ein paar Jahre später hatte die videobasierte Koch-Plattform über 20 Millionen Nutzer und die Gründerinnen einen Betrieb mit 60 Beschäftigten zu verantworten. Ende 2020 gab Hubertz das operative Geschäft auf, um für den Bundestag zu kandidieren. Nach dem Gewinn des Direktmandats ihrem Heimat-Wahlkreis Trier durfte sie den Koalitionsvertrag mitverhandeln und wurde im Anschluss zur stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion gewählt.
Frau Hubertz, sie haben Kitchen Stories mitgegründet und zu einem erfolgreichen Unternehmen aufgebaut. Was mögen Sie daran Unternehmerin zu sein?
Hubertz: Am Unternehmertum mag ich es, in der Lage zu sein, eigene Ideen umzusetzen und eine Firmenkultur zu prägen. Das Wirken des eigenen Handelns ist deutlich spürbar. Nach den ersten Erfolgen von Kitchen Stories hatte ich ein besonderes Gefühl, als ich durch die Büroräume ging und wusste, dass wir Familien mit der Arbeit ernähren können. Hohe Motivation entsteht zusätzlich, wenn sich die Geschäftsführung und Belegschaft zu 100 Prozent mit dem Produkt bzw. den Ideen identifizieren können.
Gab es ein Highlight in Ihrer bisherigen Karriere als Unternehmerin?
Ein besonderer Moment war als wir Tim Cook, den CEO von Apple zu Besuch hatten. Wir haben zusammen Pfannkuchen gekocht und er hat sich im Anschluss eine Stunde Zeit für den Austausch genommen hat. Für mich als junge Gründerin war es aufregend, den Geschäftsführer des wertvollsten Unternehmens der Welt kennenzulernen.
Können Sie auch ein Lowlight nennen?
Oft spüre ich, dass Menschen einen falschen Blick auf das Unternehmertum haben. Von außen sieht man oft nur den Erfolg eines Unternehmens, aber intern erlebt man häufig schwierige Momente und erfährt stetige Neins – wenn z. B. Investoren, Kunden oder potenzielle Mitarbeiter abspringen. Es ist es eine ständige Achterbahn der Gefühle, mit vielen Lowlights, aus denen die richtigen Schlüsse gezogen werden müssen.
Wenn ich ein besonderes Lowlight nennen muss, war es eine Phase, in der wir Mitarbeiter entlassen mussten, nachdem wir unsere Internationalisierungsstrategie angepasst hatten. Unser Produkt war zeitweise auf zwölf Sprachen verfügbar, dann hatten wir begriffen, dass wir nicht so schnell die Welt von Deutschland aus erobern können und haben uns auf drei Kernsprachen runter fokussiert. Im Anschluss mussten wir uns von Mitarbeitern trennen, wobei mir die Mitteilungen dazu nicht leichtfielen. Meine Co-Gründerin und ich haben dies natürlich im persönlichen Gespräch gemacht.
Warum haben Sie das Unternehmerdasein erstmal bei Seite geschoben und sind in die Politik gewechselt?
Ich habe mir schon längere Zeit in politischer Hinsicht Sorgen gemacht. Ich habe nicht gespürt, dass die Fragen unserer Zeit wirklich angepackt werden – mir fehlte Mut zu Innovation. Als die SPD dann 2019 bei einem Umfragewert von 14 Prozent stand, ergab sich ein sogenanntes „Window of opportunity“ für mich, da Katarina Barley in meiner Heimatstadt Trier ihr Bundestagsmandat zurückgab und nach Brüssel wechselte. Die SPD hat daraufhin einen innovativen Prozess der Nachfolgefindung gestartet – ohne Hinterzimmergespräche, eher wie ein offenes Casting. Ich habe mich beworben und gegen drei Mitbewerber durchgesetzt.
In meiner Brust haben zu der Zeit zwei Herzen geschlagen, das politische und das unternehmerische. Ich bin seit 2010 Mitglied der SPD und hatte immer das Gefühl von der Seitenlinie zuzuschauen. Jetzt ist es an der Zeit Verantwortung zu übernehmen, außerdem kann das Parlament mehr Start-up-Mentalität vertragen. Als ich mich dann für den politischen Weg entschieden hatte, starteten wir gleichzeitig den Nachfolgeprozess bei Kitchen Stories. Mit externen Beratern konnten wir einen neuen Geschäftsführer finden, der das Unternehmen mit meiner Co-Gründerin weiterführt. Operativ bin ich also aus dem Geschäft ausgestiegen.
Können Sie schon ein erstes Highlight in Ihrer politischen Arbeit nennen? Die erste Rede im Bundestag muss aufregend gewesen sein…
Die erste Rede im Bundestag war definitiv ein Highlight. Daneben sticht der Sieg des Direktmandats im eigenen Wahlkreis heraus, vorher war er in CDU-Hand. Sehr spannend war es dann nach den Wahlen direkt bei den Koalitionsverhandlungen beteiligt zu sein und unser Regierungsprogramm mitverhandeln zu dürfen. Bei den Verhandlungen gemeinsam mit Konstantin Kuhle, Britta Hasselmann und anderen am Tisch zu sitzen, war für mich der Sprung ins kalte Wasser, aber ich habe unheimlich viel in der Zeit gelernt. Jetzt freue ich mich auf weitere Highlights im Fraktionsvorstand der SPD, indem ich die Themen Wirtschaft, Tourismus, aber auch Bauen und Wohnen vorantreiben darf, was ein großer Vertrauensvorschuss für mich ist.
Gab es auch ein Lowlight in ihrer bisherigen politischen Karriere? Wie dick sind die Bretter, die gebohrt werden müssen?
Es ist auf jeden Fall ein anderes Arbeiten als in einem Unternehmen. In der Politik gibt es eine Unmenge an Terminen und ausufernden Sitzungen. Oft wird lange um eine Sache herumgeredet. Wenn man da als effizienzgetriebener Mensch drauf guckt, fragt man sich öfters: „Müssen wir jetzt alle hier sitzen oder können wir eventuell schneller vorankommen?“
Welche Erfahrungen als Unternehmerin können Sie in Ihre politische Arbeit einbringen?
Das selbstbestimmte Arbeiten kann ich mitnehmen und die Fähigkeit Menschen regelmäßig zusammenbringen zu müssen. Seit dem Wahlkampf muss ich ähnlich wie als Gründerin Menschen von Ideen überzeugen, an die sie vorher nicht geglaubt haben. Außerdem musste ich in beiden Fällen ein Team aufbauen und motivieren. Beim Startup motiviert das eigene Produkt, in der Politik die Ideen, an die man glaubt.
In meinem aktuellen Team nutzen meine Mitarbeiter und ich Start-up-Methoden in der alltäglichen Arbeit, zum Beispiel trägt jeder Mitarbeiter seine Besprechungspunkte im Vorfeld zu Meetings ein und im Meeting wird dann getimeboxt (Anm. der Red.: Timeboxing ist eine Zeitmanagement-Strategie). Mitarbeitergespräche führen wir regelmäßig durch und nicht einmal im Jahr. Ich will genau wissen, was gut oder schlecht läuft und an den richtigen Stellen optimieren. Mit dem Bundestagsmandat wird man über Nacht auch zum Arbeitgeber, was für mich nichts Neues ist, da mich der Aufbau eines Unternehmens mit 60 Beschäftigten gut vorbereitet hat.
Welche Rahmenbedingungen müssen aus Ihrer Sicht für Unternehmen besser werden?
Wir müssen deutschen Unternehmen helfen, wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Politik hat die Aufgabe, dabei zu helfen, Zukunftstechnologien auszubauen – von Biotechnologie bis zur Halbleiterproduktion. Auf der einen Seite sollten wir unsere Tradition als stolze Industrienation beibehalten und nebenbei trotzdem dafür sorgen, etwas Neues entstehen zu lassen. Wir investieren einfach viel zu wenig in Neugründungen und junge Unternehmen. Es wird erheblich mehr Kapital für spätere Finanzierungsrunden benötigt – Stichwort Zukunftsfonds – der weiter ausgebaut werden muss.
Außerdem müssen wir bei Lösungen für sehr akute Probleme in der Wirtschaft helfen. Beim Fachkräftemangel stellt sich mir momentan die Frage: Wie können wir Beschäftige noch besser fortbilden. Die Programme, die wir uns in Berlin dazu überlegen, sind ja schön und gut, aber wenn ich dazu mit Verantwortlichen von Unternehmen rede, höre ich viel Unmut. Außerdem sind Anträge von Förderprogrammen viel zu kompliziert, was ich in der Zeit bei Kitchen Stories selber erfahren musste. Hier müssen wir Bürokratie abbauen.
Die Transformation der Wirtschaft sehe ich als Mammutaufgabe der nächsten 10 bis 20 Jahre an. Dabei ist es erstmal wichtig Planungssicherheit für Unternehmen zu schaffen, die Energiepreise dürfen nicht weiter explodieren. Weitere Unterstützung muss auch bei der Digitalisierung erfolgen.
Viele junge Menschen scheuen sich vor den Risiken, die eine Selbstständigkeit im Arbeitsleben mitbringen könnte. Frauen gründen noch seltener als Männer. Wie können wir mehr Frauen zum Gründen bewegen?
Zuerst müssen Frauen bessere Rahmenbedingungen beim Gründen vorfinden. Erstens werden Frauen in der Regel bei der Vergabe von Finanzierungen gegenüber Männern benachteiligt, was man in der Forschung „Unconscious Bias“ nennt. Überall dort, wo der Staat an der Entscheidung von Investitionsentscheidungen beteiligt ist, sollte dieser Verschiebung zugunsten des männlichen Pitchs vorgebeugt werden, in dem immer Frauen mit im Entscheidungsgremium sitzen. Zweitens ist es für Frauen viel schwieriger in der Selbstständigkeit, wenn die Familienplanung mit der Arbeit kollidiert. Das Elterngeld berechnet sich auf der Grundlage der Gewinne des Unternehmens, was schwierig ist, wenn das Unternehmen noch jung ist. Diese Gesetze stammen aus den 70er Jahren – hier wollen mit der Regierungskoalition anpacken.
Drittens brauchen wir mehr Unternehmerinnen als Vorbilder. Ich werbe selber in Schulen und versuche jungen Menschen mitzuteilen, dass der Weg in die Selbstständigkeit sehr schön sein kann. Gerade wenn niemand an einen glaubt, kann dieser Weg der direkteste sein, um allen zu zeigen, was man draufhat. Dabei ist nicht nur die Gründung eines Startups in Berlin attraktiv, auch die eigene Bäckerei oder Wäscherei im Heimatort kann spannend sein.
Frau Hubert, vielen Dank für das interessante Gespräch!