25.08.2023Interview

"Heute ist es wichtig, gesehen zu werden."

Gemeinsam erfolgreich an Produkten arbeiten: Agilität hilft, die richtigen Puzzleteile zu finden.

Die Arbeitswelt wandelt sich – und mit ihr verändert sich das Verständnis von Arbeit und Zusammenarbeit in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Dadurch gewinnt das Thema der Agilität immer mehr an Popularität und rückt auch im Mittelstand zunehmend in den Fokus. Doch wofür ist Agilität überhaupt gut? Was hat es mit agilem Projektmanagement auf sich? Und welche Rolle spielt Agilität bei der Fachkräftesicherung? Um diese und weitere Fragen zu klären, hat der DMB Dennis Wagner und Carsten Rüscher zum Interview gebeten. Beide sind Vorstandsmitglieder des D-A-CH-Chapter der Scrum Alliance und arbeiten daran, Arbeitsumgebungen glücklicher, nachhaltiger und erfolgreicher zu gestalten. 

 

DMB: Herr Wagner, Herr Rüscher, unsere Arbeitswelt befindet sich im Wandel. Welche Bedeutung kommt dem agilen Projektmanagement dabei zu?

Dennis Wagner: Agiles Projektmanagement spielt beim Wandel der Arbeitswelt eine große Rolle. Dabei geht es nicht unbedingt um die Management-Methoden, sondern eher um die Grundhaltung dahinter. Viele Leute beklagen heute althergebrachte Methoden und Hierarchien in ihrem Arbeitsumfeld. Diese haben die Menschheit dennoch über einen sehr langen Zeitraum vorangebracht. Heute herrschen jedoch andere Vorstellungen und ein anderes Wertegerüst, welches in einigen Bereichen modernere Herangehensweisen erfordert. Das decken wir mit Methoden aus dem agilen Umfeld deutlich besser ab als mit traditionellen.

Wir erleben, dass Firmen häufig gerne hätten, dass alle ihre Mitarbeiter agieren wie ein Unternehmer im Unternehmen. In einem Startup, das aus ein paar Personen besteht, ist das zwangsläufig so, weil jeder Mitarbeiter unmittelbar jede Aufgabe, die aufkommt, übernehmen muss. Sobald ein Unternehmen aber größer ist, funktioniert das anders. Auch der Mittelstand ist davon betroffen. Bei dreistelligen Mitarbeiterzahlen ändert sich die Dynamik im Unternehmen. Es wird optimiert und einzelne Bereiche, die bestimmte Aufgaben übernehmen, entstehen. Wir stellen oft eine Entkopplung von Mitarbeitenden zum Erfolg der Firma fest. Diese Entkopplung wird mit zunehmender Größe eines Unternehmens intensiver. Wie viele Mitarbeiter haben noch einen unmittelbaren Bezug dazu, welche Auswirkung ihrer eigenen Arbeit, auf ihr Gehalt am Monatsende hat? Wenn ich als Mitarbeiter nur ein kleines Rädchen in einem großen Konstrukt bin, wird es immer schwieriger, diese Zusammenhänge zu erkennen. So wird es auch schwieriger Verantwortung zu übernehmen und im Sinne des Unternehmens zu handeln.

Carsten Rüscher: Wenn man betrachtet, wie junge Mitarbeitende heute denken, wie sie mit Verantwortung umgehen und welche Werte ihnen wichtig sind, dann hat agiles Projektmanagement eine große Bedeutung. Heute ist es wichtig, gesehen zu werden. Dabei geht es nicht um eine Präsenz in den sozialen Medien wie Instagram, sondern darum, dass die eigene Arbeit auch im Unternehmen wahrgenommen und qualitativ wertgeschätzt wird. Gerade durch Agilität werden Arbeitsergebnisse schnell sichtbar und dadurch wachsen Individuum und Team wiederum zusammen. In der Vergangenheit wurden den Beschäftigten die Arbeitsschritte vom Vorgesetzten auferlegt. War die Arbeit erfolgreich, wurde dies lediglich dem Vorgesetzten angerechnet und nicht dem ausführenden Team.

Wenn Unternehmen wachsen, treten spätestens bei einer Größe von 30 Mitarbeitenden erste Skallierungsthemen auf, da nicht mehr jeder Mitarbeiter alles macht und organisatorische Veränderungen notwendig werden. Durch Agilität wird dann ein Fokus daraufgesetzt, was die einzelnen Mitarbeitenden machen möchten. Der Fokus verfolgt das Ziel, eine Werthaltigkeit herzustellen. Es geht also immer um die Frage: Ist das, was man gerade tut, wirklich das werthaltigste, was ich machen könnte? Wenn sich ein Unternehmen im Wachstum von einem kleinen Unternehmen hoch in den Mittelstand befindet, ist es wichtig, diesen agilen Gedanken mitzuführen, denn dadurch entsteht eine starke Bindung zwischen dem Unternehmer, seinen Produkten und seinen Mitarbeitern. Bei wachsenden Unternehmen ist die Identifikation mit dem Unternehmen im Arbeitsalltag wichtig. Da hilft Agilität ungemein.

 

Welche Rolle spielt Agilität im Unternehmen bei der Fachkräftesicherung?

Carsten Rüscher: Agilität sorgt nicht direkt dafür, mehr Fachkräfte oder die besten Fachkräfte zu bekommen. Ob ich mich als Mitarbeiter einer agilen Organisation anschließe oder eher andere Strukturen bevorzuge, ist sehr typ- und auch unternehmensabhängig. Wenn wir über Fachkräftemangel sprechen, stellt agiles Projektmanagement allerdings eine gute Möglichkeit dar, die richtigen Leute für die richtigen Aufgaben zu finden.

Dennis Wagner: Der CEO eines Versicherungsunternehmens sagte einmal, dass in seiner Firma jeder Angestellte das Recht auf einen Job hat, allerdings nicht zwingend auf seinen derzeitigen. Das war eine Grundhaltung von oben: Wir sind eine Familie, hier gehört jeder dazu und wir können die Arbeitsleistung eines jeden gebrauchen. Aber die Welt verändert sich und eventuell muss man darauf reagieren und seinen Mitarbeitern im Laufe der Zeit andere Aufgaben zuteilen als einst bei ihrer Einstellung definiert. Man wird aber auch feststellen, dass einige Arbeitnehmer dadurch motiviert und andere eher verängstigt werden.

Es gibt darüber hinaus auch einen wichtigen Aspekt, der agile von hierarchischen Herangehensweisen unterscheidet: Vertrauen. Mir begegnet immer wieder die Frage, wie sich sicherstellen lässt, dass die eigenen Mitarbeiter im Homeoffice auch wirklich arbeiten. Eine solche Frage wird in einem agilen Unternehmen niemand stellen, da hier das Thema Vertrauen und Arbeitsorganisation anders verankert sind. Es geht auch um andere Motivationsfaktoren. Zum Beispiel kann man Menschen nur bedingt mit Geld motivieren, Aufgaben zu erledigen, die Kreativität erfordern. Einem Fließbandarbeiter kann man sagen, er bekommt mehr Geld, wenn er seine Stückzahl erhöht. Das funktioniert aber nicht, wenn es darum geht, etwas zu erfinden. Doch auch die Arbeit im traditionellen produzierenden Gewerbe enthält mittlerweile zunehmend Anteile, bei denen Kreativität gefragt ist. Da bietet Agilität dann ebenfalls neue Möglichkeiten.

Carsten Rüscher: Die Unternehmensführung muss bereit sein, diese agilen Werte auch wirklich zu leben. Ein Produkt erst dann herauszugeben, wenn es das Optimum erreicht hat, ist eine andere Herangehensweise als ein Produkt früh herauszugeben und zu beobachten, was der Markt damit macht und parallel diese Ergebnisse faktenbasiert zu analysieren. Anschließend wird das Produkt entsprechend den Ergebnisse und der Resonanz am Markt weiter verbessert. Tesla ist mit ihrer Software für die Autos früher (vielleicht auch noch heute) ein gutes Beispiel dafür, etwas frühzeitig auf den Markt zu bringen, Feedback einzuholen, um es dann anschließend weiterzuentwickeln. Das sind agile Mechanismen, die zum Erfolg des Unternehmens beitragen; ob Tesla wirklich ein agiles Unternehmen ist, vermag ich allerdings nicht zu beurteilen.

 

Unter welchen Umständen und bei welchem Mindset von Führungspersonen und Beschäftigten funktioniert agiles Arbeiten denn nicht?

Carsten Rüscher: Führungskräfte müssen loslassen können. Es geht um das Thema Vertrauen. Bestehende Reporting-Wege müssen nicht bloß angepasst, sondern von Grund auf neu gedacht werden.

Dennis Wagner: Firmen, die sich an dieser Stelle Sorgen machen, haben häufig schon das richtige Mindset. In der Beratung sage ich dann gerne, dass es dem Unternehmen ja gar nicht so schlecht gehen kann, denn sonst könnte es sich keine externe Beratung leisten. Die Firma existiert und funktioniert scheinbar. Der Wunsch dieser Unternehmen ist aber, Dinge besser zu machen, da sie beobachten, dass sich der Markt ändert und es zunehmend schwieriger für sie wird, Schritt zu halten. Dann wird sich die Unternehmenskultur verändern, aber die Voraussetzungen dafür sind im Grunde schon da.

 

Scrum und Kanban sind zu geflügelten Begriffen im Projektmanagement geworden. Was verbirgt sich hinter diesen beiden Konzepten und worin liegen die Unterschiede?

Dennis Wagner: Scrum beschreibt grundsätzlich, wie man eine Gruppe von Menschen dazu befähigt, gemeinsam erfolgreich an einem Produkt zu arbeiten. Dabei gibt es verschiedene Rollen. Es gibt jemanden, der sich um den Fortschritt des Produkts kümmert und eine Liste mit den abzuarbeitenden Tätigkeiten priorisiert. Diese Person nennt sich im Scrum-Umfeld Product Owner. Priorität ist dabei ein wichtiges Gut. Es macht nicht jeder einfach, wozu er gerade Lust hat, sondern es gibt eindeutige Prioritäten, an die sich alle strikt halten. Dann gibt es die Personen, die mit der Umsetzung betraut sind, die sogenannten Entwickler. Eine spezielle Rolle kommt dem Scrum Master zu. Er ist explizit dafür zuständig, das Team dabei zu unterstützen, ihre Tätigkeit auch umsetzen zu können, indem er zum Beispiel Hindernisse aus dem Weg räumt. Der Scrum Master beobachtet das Team in seiner täglichen Arbeit und weist es auf verschiedene Dinge hin. Scrum Master sollte immer diejenige Person sein, die sich mit der Methodik und dem gesamten zugrundeliegenden Framework am besten auskennt und daher bei allem helfen kann. Man hat damit automatisch auch einen Moderator für viele Termine, die zur Organisation des gesamten Prozesses stattfinden.

Wir versuchen bei Scrum iterativ inkrementell zu arbeiten. Das heißt, wir zerlegen das große Ganze in kleinere Teile, die dann stückweise angegangen werden. Hier ist die Rede vom Sprint, also einem Zeitblock von üblicherweise zwei Wochen bis 30 Tagen, in denen ausschließlich an dem einen festgelegten Thema gearbeitet wird. Woran gearbeitet wird, setzt sich aus der vorher getroffenen Priorisierung des Product Owners und dem größten Interesse des Teams zusammen.

Die Arbeit sollte in einem geschützten Raum stattfinden.  Wir versuchen während dieser zwei Wochen jegliche Störung, die das Team beeinflussen könnte abzuwenden, sodass am Ende auch ein möglichst auslieferungsfähiges Inkrement hergestellt wurde.

Carsten Rüscher: Der Sprint ist dazu da, um Fokus auf das, was man erreichen möchte, herzustellen. Aus Sicht des agilen Projektmanagements ist das enorm wichtig. Denn ein Problem, woran Projekte häufig scheitern, ist das nicht einhalten von Deadlines. Ganz häufig passiert das, weil man vorher keinen Fokus aufgebaut hat, man viel zu groß denkt oder insgesamt zu viele Sachen gleichzeitig abarbeitet. Scrum hilft dabei, Prozesse und ihre einzelnen Schritte kleiner und übersichtlicher zu gestallten. Dadurch kann man Fokus aufbauen und frühzeitig erkennen, wenn etwas nicht so funktioniert, wie man sich das vorgestellt hat. Dies innerhalb des geschützten Raums während des Sprints herauszufinden, funktioniert gut.

Bei Kanban sprechen wir über einen Change Management-Prozess. Es geht um einen Organisationsprozess, der dafür sorgt, dass sich stetige Verbesserungen durch kontinuierliches Lernen und einen stetigen Flow, einstellen. An einer Stelle unterscheiden sich Scrum und Kanban wirklich sehr stark. Den vom Scrum bekannten Sprint gibt es bei Kanban in der Form nicht. Dort wird Fokus durch die Limitierung von gleichzeitig laufender Arbeit hergestellt. Man kann von Kanban sprechen, wenn Arbeit, die gleichzeitig getan wird, limitiert wird. Kanban konzentriert sich halt einfach auf Arbeitsflow. Arbeit läuft durch das sogenannte System, typischerweise auch in Form des bekannten Boards, und wird erledigt. Daraufhin wird durch Reviews auf Fehlerquellen und mögliche Blocker im Arbeitsprozess geprüft. Hier gibt es nicht den typischen Scrum Master. Es gibt Rollen, diese sind aber nicht so eng geschnürt wie in Scrum. Kanban ist hingegen ein sehr auf Metriken fokussiertes System, durch welches über Zahlen geprüft werden kann, wie es gerade läuft. Für Unternehmen, die sehr Zahlen getrieben sind, lohnt sich so ein Kanban System sehr gut. Kanban und Scrum lassen sich aber auch gut kombinieren. Ein Kanban in einem Scrum Umfeld ist eine super Ergänzung. Andersherum funktioniert es nicht so gut.

Welches System, oder welche Systemkombination ich am Ende verwende, ist dann auch immer davon abhängig, wo ich als Unternehmen stehe und wie ich wo hin möchte. Scrum nutze ich eher dann, wenn das Ziel bekannt ist, der Weg dahin aber noch nicht und Kreativität nötig wird. Also eher im komplexen Umfeld.

Dennis Wagner: Von David Anderson, einem Vordenker im Umfeld der Agilität, stammt der Satz: Scrum ist ein Prozess und Kanban ist etwas, das man mit einem Prozess tut. Insoweit sind diese zwei Dinge kombinierbar. Wenn man Kanban nutzen möchte, hat man damit noch nicht festgelegt, wie der Prozess aussehen soll.

Bei der Frage nach Stolperfallen, würde ich grundsätzlich auf eine ungenaue und fehlerhafte Ausführung von Scrum verweisen. Wenn das System eingeführt wird, sollten keine Elemente ausgelassen werden. Bei Kanban kann die Transparenz zum Problem werden. Wenn man anfängt, konkrete Zahlen zu erheben, diese aber nicht gut aussehen, kann das dazu führen, dass der Prozess absichtlich abgebrochen wird, da das Unternehmen mit der Aufdeckung von Schwächen nicht umgehen kann.

Carsten Rüscher: Für sämtliche agilen Methoden gilt: Agilität löst keine Probleme, zeigt sie aber auf. Mit den richtigen Leuten kann man diese aber angehen und lösen. Dies ist die richtige Reihenfolge. Unternehmen sollten sich zuerst darüber Gedanken machen, warum sie eigentlich Agilität möchten und was sie damit erreichen wollen? Diesen Diskurs muss man mit allen Beteiligten innerhalb des Unternehmens führen. Agiles Arbeiten ist Mittel zum Zweck und sollte niemals Zweck an sich sein.

 

Sie sind beide Mitglieder des Vorstands im DACH-Chapter der internationalen Scrum Alliance. Was ist die Aufgabe der Scrum Alliance und wie unterstützen Sie kleine und mittlere Unternehmen (KMU)?

Dennis Wagner: Die Scrum Alliance ist eine Non Profit-Organisation, die ursprünglich in den USA gegründet wurde. Die Grundidee ist, dabei zu helfen, die Arbeitswelt zu verbessern und aufzuzeigen, dass Scrum ein wertvolles Werkzeug dafür sein kann. Die Scrum Alliance agiert auch als Förderer von Austausch und Vernetzung der Community. Es gibt zum Beispiel viele Menschen, die sich einmal im Monat in einer bestimmten Stadt abends in einem Lokal oder in ihrer Firma treffen, um über das Thema Scrum und agiles Arbeiten ins Gespräch kommen. Hier helfen wir Interessierten dabei, diese „Scrum-Tische“ zu finden und unterstützen diese lokalen Gruppen außerdem auch finanziell, indem wir zum Beispiel die Miete für einen Raum für die regelmäßigen Meetings zahlen. Wir treten auch als Sponsor und Referenten auf Konferenzen zu Scrum auf.

Da Scrum sehr englischlastig ist, arbeiten wir darüber hinaus an Übersetzungen. So werden viele der Informations- und Lehrmaterialien, die in Englisch verfasst sind, für deutsche Firmen und ihre Mitarbeiter einfacher zugänglich.

Carsten Rüscher: Bei unserer Arbeit sowie der Vernetzung und dem Ausbau der Community sind wir nicht ausschließlich auf Scrum beschränkt, sondern es geht auch noch um andere agile Systeme. Der Fokus liegt zwar auf Scrum, aber wir grenzen uns von anderen agilen Systemen nicht völlig ab.

Darüber hinaus sind wir Ansprechpartner für Unternehmen, die sagen, sie haben bereits etwas von Scrum und Agilität gehört und möchten sich weiter in diese Richtung entwickeln. Diese Unternehmen finden ganz viele Anbieter auf dem Markt und wie in jeder Branche gibt es darunter gute und weniger gute.

Wir kennen die Zertifizierung der Anbieter bei uns in der Scrum Alliance und wissen wer sich für welche Anforderungen eignet. Wir haben da einen großen Pool an guten Anbietern. Kleine und mittelständische Unternehmen können sich an uns wenden und wir vermitteln ihnen dann kostenfrei passende Ansprechpartner in unterschiedlichen Regionen. Wir bringen in die Unternehmen aber nicht die Lösung, sondern wir befähigen sie, die für sie beste Lösung des agilen Arbeitens zu implementieren.

 

Vielen Dank für das Interview

Dieses Interview ist Teil von Mittelstand WISSEN zum Thema "Arbeitswelt von morgen".

 

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