29.06.2023Interview

"Auf disruptive Veränderungen gut vorbereitet zu sein..."

Das Interview ist Teil der Beitragsserie "Mittelstand WISSEN" zum Thema unternehmerische Widerstandsfähigkeit.

 

Die Lage der Lieferketten deutscher Unternehmen hat sich durch Ereignisse wie die Covid-19-Pandemie und den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verändert. Priorität hat nun Versorgungssicherheit statt Effizienz. Unternehmen ergreifen zunehmend Maßnahmen, um widerstandsfähigere Lieferketten zu schaffen. Transparenz, Digitalisierung und Risikomanagement sind entscheidend.

Der DMB fragt Prof. Wolfgang Buchholz der Fachhochschule Münster im Interview nach dem aktuellen Status der Lieferketten deutscher Unternehmen, die Gefahren des Klimawandels für Lieferketten, mögliche Schutzmaßnahmen für Unternehmen und das aktuelle Lieferkettenschutzgesetz der EU.

DMB: Wie schätzen Sie die aktuelle Lage bei den Lieferketten der deutschen Unternehmen ein? 

Prof. Buchholz: Die zunehmende Globalisierung hat in den Jahren vor der Coronapandemie eine Effizienzsteigerung in den Lieferketten deutscher Unternehmen notwendig gemacht. Covid-19, die Suez-Kanal-Blockade und der Ukraine-Konflikt sind aber - neben anderen - disruptive Einflüsse der jüngeren Vergangenheit, die zu einem Umdenken bei den Unternehmen geführt haben. Versorgungssicherheit ist wichtiger als Effizienz. Einer aktuellen BCG-Studie zufolge sehen 77 Prozent der befragten Einkaufsverantwortlichen das Thema auf Platz 1 der Prioritätenliste noch vor Preisrisiken mit 66 Prozent. Zwar hat sich die Lage etwas entspannt, aber eine Störung der Lieferkette hat langfristige Auswirkungen, da es dauert, bis die Balance wieder hergestellt ist.  

 

Was haben Unternehmen aus den Herausforderungen der COVID-19-Pandemie im Lieferkettenmanagement gelernt? Wie hat die Pandemie den Umgang mit dem Thema Lieferketten verändert? 

Unternehmen haben in den letzten drei Jahren aus der Krise gelernt und Maßnahmen angestoßen, um ihre Lieferketten widerstandsfähiger zu machen. Das Thema Supply Chain Resilienz ist aktuell sowohl in Theorie als auch in Praxis eines der Top-Themen auf der Agenda von Logistikern. Resilienz ist die Fähigkeit, ein System wieder in seinen Urzustand zu versetzen oder in einen neuen, wünschenswerteren Zustand zu bringen, nachdem es zerstört oder beeinträchtigt wurde. Für eine Lieferkette bedeutet das, auf disruptive Veränderungen gut vorbereitet zu sein, auf Störungen zu reagieren und in der Lage zu sein, auf das ursprüngliche Leistungsniveau zurückzukehren bzw. sogar die Leistungsfähigkeit zu steigern. Das ist zwar ein hehrer Anspruch, aber es sollte das Ziel sein, gestärkt aus der Krise herauszukommen. 

 

Was sind grundlegende Faktoren eines erfolgreichen Lieferkettenmanagements bei Unternehmen?  

Das Zauberwort lautet meiner Meinung nach hier Transparenz. Das heißt, je besser ein Unternehmen den Überblick über seine Lieferketten hat, desto stabiler bzw. resilienter können sie ausgestaltet werden. Die Digitalisierung kann maßgeblich dazu beitragen, die Transparenz in einer Lieferkette zu erhöhen. Unternehmen sollten im Bereich Supply Chain Management ein funktionsfähiges Risikomanagement etablieren. Hierbei sollte nicht nur ein reaktives Vorgehen erfolgen, wenn Risiken bereits eingetreten sind, sondern es sollten vor allem proaktiv Vorgehensweisen aufgezeigt werden. Es geht darum, Risiken vor ihrem Eintreten zu erkennen, um rechtzeitig Alternativen einzuleiten. Eine weitere Möglichkeit bietet das Internet of Things (IoT). Die Materialien in der Lieferkette sind mit Sensoren ausgestattet, die mit einer Plattform kommunizieren und frühzeitig, bzw. in Echtzeit, Probleme in der Kette signalisieren. Drittens ermöglicht Big Data Technologie, Erkenntnisse aus unstrukturierten Daten zu gewinnen, deren Informationsgehalt auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist. Diese können wertvolle Hinweise für anstehende Problemfelder in der Lieferkette aufzeigen, um frühzeitig gegenzusteuern.

 

Was macht eine/n kompetenten Supply Chain Manager aus? Welche Kompetenzen sollten vorhanden sein? 

Zu dieser Frage möchte ich auf die Ergebnisse einer Delphi Studie verweisen, die wir am Institut für Prozessmanagement und Digitale Transformation (IPD) an der FH Münster zusammen mit der Uni Twente in Enschede durchgeführt haben. Hier wurden zukünftig relevante Rollen bzw. Kompetenzen für die Beschaffungsfunktion erfragt. Das lässt sich aus meiner Sicht auch auf den Supply Chain Manager übertragen. Die fünf relevantesten Kompetenzen in absteigender Reihenfolge stellen sich folgendermaßen dar: 1. Data Analytics, 2. E-Procurement Technology, 3. Digital Leadership, 4. Robotic Process Automation, 5. Digital Network Management. Es zeigt sich also, dass Kompetenzen rund um das Thema der Digitalisierung hoch relevant sind. Dem haben wir an der FH Münster Rechnung getragen, indem wir seit dem letzten Jahr einen berufsbegleitenden Masterstudiengang mit dem Titel Digital Supply Chain Management anbieten.

 

Welches Risiko stellt der Klimawandel für (internationale) Lieferketten dar? Werden die Gefahren von Extremwetterereignissen für die Lieferkette in Unternehmen bereits angemessen thematisiert? 

Die Beispiele von extremen Klimaauswüchsen, auch in unseren Breiten, sind nicht von der Hand zu weisen. Nicht nur Lieferketten „far away“ sind davon betroffen, Unwetter oder Überschwemmungen in Deutschland führen immer öfter zu Problemen in der Lieferkette. Aber auch hier gibt es Möglichkeiten, über Frühwarnsysteme rechtzeitig Hinweise zu bekommen. Die Digitalisierung hilft hier weiter. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Anbietern, die Zugänge zu unternehmensbezogenen und öffentlichen Datenquellen nutzen, diese Daten mit Big Data- oder KI-Tools analysieren, um daraus Schwachstellen zu ermitteln, Extremsituationen frühzeitig zu erkennen und Alternativszenarien zu simulieren. Aktuell werden diese Tools nur von einer Minderheit an Unternehmen genutzt, allerdings mit wachsender Tendenz. Aber auch hier muss das Unternehmen bereit sein, Geld in die Hand zu nehmen, um solche Technologien für sich zu nutzbar zu machen. 

 

Wie ordnen Sie die Pläne der EU für ein europäisches Lieferkettenschutzgesetz ein? Wie hoch könnte die bürokratische Belastung für kleine und mittlere Unternehmen werden? 

Aus deutscher Perspektive macht ein EU-weites Lieferkettengesetz Sinn. Bei uns stehen Unternehmen mit mindestens 3000 Mitarbeitern ab 2023 und solche mit mehr als 1000 Mitarbeitern ab 2024 in der Pflicht. Wenn nur deutsche Unternehmen davon betroffen sind und der Rest Europas nicht mitmacht, ist das zum einen wettbewerbsverzerrend, zum anderen ist der Gesamtnutzen der Maßnahmen dann eher gering. Natürlich ist es eine zusätzliche Belastung, insbesondere für KMUs, die geforderten Maßnahmen umzusetzen. Aber worum geht es? Die Analyse und Bewertung von Risiken soll etabliert werden, die Einhaltung von Menschenrechten und fairen Arbeitsbedingungen soll vertraglich fixiert und überprüft werden, bei Nichteinhaltung sollen Maßnahmen ergriffen werden und letztendlich sollen alle Mitarbeiter für das Thema sensibilisiert werden. Das hilft Unternehmen in vielerlei Hinsicht weiter und daher sollte auch die Unterstützung durch das Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) ausgedehnt werden. Wir sollten aber nicht immer nur den Aufwand, sondern auch einmal den Nutzen sehen und nicht immer nach dem Prinzip agieren: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.“ 

 

Dieser Beitrag ist Teil von Mittelstand WISSEN zum Thema "Unternehmerische Widerstandsfähigkeit"

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